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Bildende Kunst

Angefangen hat alles zu Beginn der 1960er-Jahre. Riese, zu dem Zeitpunkt noch Student an der Universität in Frankfurt, reist nach Prag, um dort eine Ausstellung für die Siegener Galerie Ruth Nohl zu organisieren. Bei weiteren Besuchen und ab 1969, als Auslandskorrespondent für den Deutschlandfunk akkreditiert, findet er Zugang zur alternativen Prager Kunstszene, die sich abseits der offiziellen, indoktrinierten Staatskunst etabliert hat. Überrascht von der hochkarätigen und ästhetischen Kunst, die sich, vom Westen unbeachtet, in der Tschechoslowakei entwickelt hat, beginnt er zu sammeln: Zdenĕk Sýkora, Jan Kubiček, Jiři Kolář, Miloš Urbásek, Karel Malich und viele andere. Künstler, die inzwischen in der aktuellen Kunstszene internationales Renommee genießen. 1973 aus der CSSR wegen Kontakten zur Dissidenten-Szene ausgewiesen, führt Rieses beruflicher Weg zunächst als ARD-Hörfunkkorrespondent nach Moskau und später nach Washington. Ein Glücksfall für den Kunst begeisterten Journalisten ist die sowjetische Hauptstadt. Hier gehört sein Interesse den Nonkonformisten, die sich der politisch vorgegebenen Stilrichtung des russischen Sozialismus widersetzten. Arbeiten von Kasimir Malewitsch, El Lissitzky, Yuri Avvakumov, Francisco Infante, Karel Malich oder Iwan Puni, um nur einige zu nennen, bilden heute den Schwerpunkt seiner russischen Kunst.

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Neben der Leidenschaft für die Avantgardisten des Ostblocks, gehört Rieses Sympathie aber auch deutschen, schweizerischen und amerikanischen Künstlern. Prominente Namen wie Lars und Renate Brandt, Max Cole, Eberhard Fiebig, Günther Uecker, Richard Paul Lohse oder Willem de Kooning, Christo und Andy Warhol sind in seiner Kollektion vertreten. Anders als offizielle museale Sammlungen, repräsentiert Rieses Privatsammlung seinen persönlichen Geschmack, seine Neigungen und Abneigungen. Hinzu kommt die hohe Qualität der von ihm ausgewählten Exponate. Galt anfangs seine Vorliebe der konstruktiv-konkreten Kunst und dem „Lettrismus“, erweitert er später das Spektrum um Stilrichtungen der Pop-Art, Op-Art, Art-Informel und Art-Abstrakt sowie der Neuen Figuration. Skulpturen, Objekte, Nagelkunst, Collagen, Rollagen, Prägedrucke und Fotografien finden Eingang in seine Sammlung.

Beeindruckend sind die Kompositionen des Schweizer Malers und Grafikers Richard Paul Lohse. Seine horizontal und vertikal gegliederten Farbfelder aus Quadraten und Rechtecken sind von überwältigender, geradezu sinnlicher Farbigkeit. Etwa zeitgleich wählt der tschechische Künstler Miloš Urbásek dagegen die Kreisform für seine farbintensiven Bilder.
Interessant sind unter anderem die Rollagen „Venus nach Bottocelli“ des Tschechen Jiři Kolář aus den Jahren 1965 bis 68 und 1974. Kolář hat Kopien von Botticellis berühmtem Gemälde in gleich breite Streifen geschnitten, neu zusammengesetzt und verklebt, sodass optische, an einen Zerrspiegel erinnernde Neuschöpfungen entstanden sind.
Ein Highlight ist die Neuerwerbung „On the Edge“ des russischen Malers und Bildhauers Grisha Bruskin aus dem Jahr 2008. Die kleine Gipsskulptur soll an einen imaginären
Katastrophenalarm in der Sowjetunion erinnern: Zwei Männer, ein Blinder mit Blindenstock und -brille wird geführt von einem Mann mit Gasmaske. Der vorangehende Blinde hat bereits den rechten Fuß gehoben. Ein Schritt weiter und er würde über die „Edge“ stürzen.

Rieses thematisch geordnete Präsentation hängt auf allen Etagen der Kunsthalle St. Annen. Ost- und Westkunst sind kombiniert, um so die Parallelität der künstlerischen Entwicklung diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs aufzuzeigen. Im Foyer des Hauses empfängt den Besucher die großformatige Malerei von Jan Kubiček „Geteilte Kreise und Halbkreise, zwei Dimensionen (Diptychon)“ von 1989. Folgt man dem Ausstellungsparcour, was zu empfehlen ist, beginnt die Schau im Untergeschoss mit der klassischen, russischen Avantgarde, führt über Konstruktivismus, Grafik und Collagen, Lettrismus, Informel, Abstrakt, Fotos und Rollagen bis in das lichte Dachgeschoss. Hier stehen Skulpturen von Norbert Thomas, Eberhard Fiebig und Grisha Bruskin. Die Düsseldorfer Künstlergruppe ZERO, zu denen Hartmut Böhm, Josef Neuhaus, Klaus Staudt, Oskar Holweck und Günther Uecker gehören, ist mit Rauminstallationen, monochromen, weißen Bildern, Reliefs und Prägedrucken vertreten. Ueckers berühmtes Nagelobjekt „Ohne Titel- Zeitungen, Nägel“ von 1985 dominiert allerdings den Raum.

Während seiner Auslandsaufenthalte hat Riese mit Unterstützung seiner Frau avantgardistische Kunst aus den Ostblockländern gesammelt. Hinzu kommt die zeitgenössische Moderne aus dem Westen. Rund 65 Künstler sind in der Sammlung vertreten, einige mit mehreren Exponaten. Künstler, mit denen er bis heute befreundet ist. „Ich möchte“, so Riese, „dass die Arbeiten aus meiner Sammlung in die Öffentlichkeit gelangen, das bin ich auch den Künstlern schuldig.“ Und „ … ich würde mich freuen, wenn es auf diese Weise gelingt, bei den Besuchern Interesse und Verständnis zu wecken für die Vielfalt und Qualität vor allem der osteuropäischen Kunst, die mir so am Herzen liegt“.
In Erinnerung an seine im Jahre 2000 verstorbene Frau hat Hans-Peter Riese seine umfangreiche Sammlung der Michaela Riese Stiftung im Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg vermacht, die er weiterhin mit Neuerwerbungen ergänzen möchte. Ein Ende seiner Sammlerleidenschaft ist also nicht in Sicht.


Die überaus facettenreiche Ausstellung „Dialog über Grenzen Kunst aus Ost und West – Die Sammlung Riese“ ist bis zum 6. Januar 2013 zu besichtigen.
In der Kunsthalle St. Annen, St. Annen-Straße 15, in 23552 Lübeck.
Ein Katalog ist erschienen.
www.kunsthalle-st-annen.de

Bildnachweis:
Header: Hans-Peter Riese neben einem Objektbild von Adolf Luther. Foto: Hannelore Schramm.
Galerie:
01. Grisha Bruskin, On the Edge, 2008
02. Adolf Luther, Ohne Titel, 1975
03. Richard Paul Lohse, Sechs komplementäre Farbreihen, 1982
04. Eduard Steinberg. Tarusa - Paris, 1993
05. Zdeněk Sýkora, Linie Nr. 144, 1998
06. Norbert Thomas, Raum-Form 48/2004, Edelstahl, gebürstet, 2004. Foto: Hannelore Schramm.
07. Eberhard Fiebig, Faltung, Stahl, brünniert, 1978. Foto: Hannelore Schramm.
 

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