Bildende Kunst
Seine überragende Bedeutung für die Kunstentwicklung um 1800 zeigt nun, im 200. Todesjahr, die erste umfassende Werkschau in der Hamburger Kunsthalle auf. 35 Gemälde, mehr als 200 Zeichnungen, darunter auch seine Farbenlehre, sowie ein bislang kaum bekanntes Konvolut an 50 Scherenschnitten und Schattenrissen ermöglichen hier zum ersten Mal den kompletten „Kosmos Runge“ zu ergründen.

Eine Retrospektive von Philipp Otto Runge im Sockelgeschoss der Galerie der Gegenwart zu präsentieren, mutet erst einmal befremdlich an. Doch sobald man die Treppen hinabgestiegen ist, erweist sich dieser abgeschiedene Ort als durchaus schlüssig. Runge brach zu Beginn des 19. Jahrhunderts radikal mit der Tradition des Klassizismus und stellte stattdessen den Schöpfergedanken in das Zentrum seiner Kunst. Er wollte nicht mehr antiken Idealen nacheifern, sondern allein aus sich „heraus arbeiten“ – aus seinen subjektiven Gefühlen, seinen tiefgreifenden Gedanken, seiner Auffassung von Gott. Das autonome Kunstwerk , geschaffen von einem Künstlergenie: Dieses radikal neue Kunstverständnis legt durchaus nahe, sein Werk im Kellergewölbe einer Galerie für Gegenwartskunst auszubreiten – gleichsam als ein Fundament der Moderne.
Zum Auftakt ein Raum nur mit Zitaten des Künstlers. Ein Mosaik aus Stimmungen und Bekenntnissen, bis unter die Decke, das unmittelbar einstimmt auf den thematisch in 11 Kapitel gegliederten Rundgang durch farblich unterschiedlich gestaltete Räume. Rostrot, Altrosa, Hellgelb, Lindgrün. Es sind Farben, die in den Bürgerstuben des 18. und frühen 19. Jahrhunderts en vogue waren und die jetzt die Temperatur dieser atmosphärisch dichten Ausstellung vorgeben.
„Es ist erstaunlich schön ein Künstler zu seyn, so lebendig ist keinem anderen Menschen die ganze Welt“, schreibt Runge und man glaubt dem jungen Mann, der ernst und forschend dem Betrachter entgegenblickt. Das „Selbstbildnis mit braunem Kragen“ (um 1802) ist das erste einer Reihe programmatischer Bilder, die eindrucksvoll von seinem künstlerischen Selbstverständnis zeugen. Hintergrund und Kleidung sind bewusst schemenhaft gehalten, um die ganze Aufmerksamkeit auf Gesicht und Augen zu konzentrieren. Auf die intensive Selbstbefragung, die einher geht mit dem unbedingten Willen, künstlerisches Neuland zu beschreiten.

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Als Runge dieses Selbstporträt malt, steckt er in einer tiefen Krise. Seine Zeichnung „Achill und Skamandros“ war bei den „Weimarer Preisaufgaben“ von Goethe und Heinrich Meyer durchgefallen. Ein Schlüsselerlebnis. „Wir sind keine Griechen mehr, und können das Ganze schon nicht mehr so fühlen, wenn wir ihre vollendeten Kunstwerke sehen, viel weniger selbst solche hervorbringen“, schrieb er an seinen Bruder. Runge, der zu Beginn seiner Ausbildung in Hamburg, Kopenhagen und Dresden so emsig nach antiken Vorbildern gezeichnet hatte, begriff mit einem Mal, dass er als „denkender Künstler“ aus sich selbst schöpfen musste. In Folge kreierte er einen Bildertypus, der die „romantische Wende“ markierte: In der „Lehrstunde der Nachtigall“ (1801-1805) bezog Runge erstmals den Rahmen als gleichwertiges Element in die Bildhandlung ein. Gleichzeitig besetzte er das Personal seines Gemäldes mit mehreren Bedeutungsebenen: Die beiden Nachtigallen werden zu Amor und Psyche, wobei Psyche wiederum die Züge seiner jungen Frau Pauline trägt.
Das Prinzip der „Überblendungen“ charakterisiert auch Runges Lebenswerk, die arabeske Graphikfolge der „Zeiten“, sowie die daraus entwickelten Gemälde „Der kleine Morgen“ und der unvollendete, zum Teil zerstörte „Große Morgen“ . Sphärisch überhöhte, stark dekorativ und formalistisch reduzierte Kompositionen, in denen Runge den kosmischen Dimensionen Gestalt verlieh: Dem Kreislauf der Tages-, Jahres-, Lebens-, ja sogar Weltenzeiten. Für diesen Zyklus, der mit seiner vielschichtigen christlichen, antiken und naturmystischen Symbolik bis heute Rätsel aufgibt, hatte der Künstler ein eigenes Gebäude geplant. Ihm schwebte „eine abstracte mahlerische phantastisch-musikalische Dichtung mit Chören, eine Composition für alle drey Künste zusammen“ vor. Runge war in seinen letzten Lebensjahren bewegt von der Idee des Gesamtkunstwerkes. Er hatte überhaupt keine Berührungsängste zur angewandten Kunst“, wie die vielen Scherenschnitte und Wandornamente zeigen. Im Gegenteil, er war sich sicher auf diesem Weg das Publikum zu gewinnen. Es sollte, so schrieb er, „nur erst glauben, es wären bloß Zimmerverzierungen, hernach aber davon nicht wieder loskommen können“.

Es sind Einsichten wie diese, die die Hamburger Ausstellung so sehenswert machen. Zum ersten Mal werden hier nicht nur isoliert Meisterwerke wie die „Hülsenbeckschen Kinder“ und die Familienporträts präsentiert, sondern eine Fülle von Skizzen, Entwürfen, Vorzeichnungen und Reinzeichnungen, die aufzeigen, wie unendlich langwierig der Schaffensprozess des jungen Künstlers war. Mit wie viel Ehrgeiz und Verbissenheit er um die endgültige Form seiner Bilder gerungen hat. Goethe, der strenge Kritiker der klassizistischen Zeichnung, fand die „Zeiten“-Folge später „zum Rasendwerden, schön und toll zugleich“. Das Lob hätte Runge sicher gefreut, doch da war er bereits schon tot.

„Kosmos Runge. Der Morgen der Romantik“, Hamburger Kunsthalle bis 13. März 2011, Di-So 10-18 Uhr, Do bis 21 Uhr.
Abbildungen Philipp Otto Runge (1777-1810):
Header: Detail aus: "Die Ruhe auf der Flucht", 1805, Öl auf Leinwand, 96,5 x 129,5 cm
1. "Selbstbildnis mit braunem Kragen", 1802 , Öl auf Leinwand, 37 x 31,5 cm
2. "Die Hülsenbeckschen Kinder", 1805/06, Öl auf Leinwand, 131,5 x 143,5 cm
3. Der Große Morgen, 1809, Öl auf Leinwand, 152 x 113 cm
© Hamburger Kunsthalle/bpk Fotos: Elke Walford
4. "Sommertag" 
Weißer Scherenschnitt auf grauem Papier, 10 x 16,5 cm
5. "Hund, den Mond anbellend", Weißer Scherenschnitt auf blauem Papier, 18,2 x 11,5 cm
© Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett/bpk 
Fotos: Christoph Irrgang

Weiterer Themenhinweis: Am 20. Februar um 13:30h zeigt das Abaton Kino den Film "Kosmos Runge"