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Bildende Kunst

Über einen vorher definierten und festgelegten Raum, der wie eine Art Geburtskanal funktioniert wird der Besucher zu einem einzigen Punkt geführt, auf dem das Werk plötzlich zweidimensional erscheint: ein Trompe-l'œil, das Auge wird getäuscht. Der Bildinhalt reduziert auf eine Ebene und wird zu einem flächigen Bild, zumindest erscheinen die malerisch wirkenden geometrischen Figuren wir freischwebende Körper.

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Mit Hilfe eines großen sogenannten Gobo-Projektors, der wie ein lichtstarkes Dia-Vorführgerät funktioniert, wird die geometrische Gestalt angelegt und von dessen Standpunkt aus – etwa auf Augenhöhe eines erwachsenen Menschen – in den Raum projiziert, später dann auf Hauswände, Fassaden und Dächer farbig aufgetragen, geklebt – in diesem Fall vier blaue ineinandergreifende Kreisformen. Mittels Hebebühnen und Bergsteigerausrüstung wurde von Varini und seinen Assistenten zehn Tage lang die blaue Intervention aufgebracht.
Verlässt man den Idealblickpunkt so zerfällt das Bild in lange Streifen, verzerrten Abrundungen und nicht weiter decodierbare Muster. Die Komposition dekonstruktiviert sich in merkwürdige, nicht mehr nachvollziehbare Fragmente.
Der Idealstandpunkt befindet sich neben dem Dom St. Peter (Große Domsfreiheit) und die Blickrichtung verläuft entlang der Straße Markt auf die Außenfassade der Chorseite der protestantischen Marienkirche.

Das von Valérie Schwindt-Kleveman (freie Kuratorin) in Kooperation mit Julia Draganović (Kunsthalle Osnabrück) kuratierte Projekt ist nicht allein durch die Machart, den Aufwand, die Durchführung und die visuellen Effekte für jedermann so mitreißend, es ist auch künstlerisch von besonderer Bedeutung. Varini lotet nämlich den Raum als optisches sich permanent veränderndes Handlungsfeld aus. Er nimmt für (s)ein letztlich malerisch gedachtes Bild eine Idee der dreidimensionalen gotischen Skulptur auf, die lediglich eine einzige Schauseite hat und sonst nur Nebenseiten. In der Transformation definiert sich eben lediglich an einem einzigen präzis festgelegten Standpunkt eine Art Auflösung und damit auch eine Erlösung. Um diese aber zu begreifen, verlangt der Künstler von seinem Publikum sich physisch und psychisch zu bewegen, den Raum quasi selbst zu erarbeiten, sich in den Fragmenten zurecht zu finden und auf Entdeckungstour zu gehen. Der Raum der sonst durchschritten oder gar durcheilt wird, entwickelt sich so zu einem vollkommen neuen Wahrnehmungsraum und verbindet bauliche und urbane Ensemble mit zeitgenössischer Kunst.
Lange Zeit befinden sich die Besucher im Kunstwerk selbst, um dann den klassischen Blickmoment – und vermeintlich einzig wahren – auf die vier geschlossenen Kreise genießen zu können. Das Spiel mit den Distanzen ist wie eine Metapher für die Annäherung an Kunst per se, dessen Wechsel Betrachter schon immer ausgeliefert waren und sind: dort, das Kunstwerk – hier, der Betrachter (Distanz) oder Betrachter im Kunstwerk oder gar als Teil des Kunstwerks (Nähe). Was allerdings parallel passiert ist auch ein Wechsel der Dimension. In der Distanz wird das Werk zwei-, in der Nähe dreidimensional.

Auch im Innenraum funktionieren Felice Varinis Arbeiten in gleicher Weise. Die 20 Meter hohen und 50 Meter langen Doppel-Installationen im Kirchenschiff der Kunsthalle sind ebenfalls abhängig von Raum und Standpunkt. Aus einem undefinierbaren farblichen Form-Ensemble ergibt sich ein exakt geometrisches Bild aus verschiedenfarbigen Dreiecken und Trapezen. Blickt man von der entgegengesetzten Raumseite, so schaut der Besucher auf riesige hell orangefarbene, vollständig und unvollständig geschlossene Kreise, die mit den gotischen Deckenbögen in einen Dialog treten. Die Symbiose zwischen Architektur, Raum und Malerei wirkt eindringlich.
Das Spiel mit der Auflösung und (Wieder-)Herstellung der Zentralperspektive, die kommunikativen Aspekte des Werks, die Verbindung des ehemaligen geistigen Raums mit einem heutigen künstlerischen Ort sind nicht nur formal-historisch zu sehen, sondern in gleicher Weise als Erlebnis- und Wahrnehmungsraum, der zudem nach der Bildung von kulturellen, religiösen und säkularisierten Gemeinschaften fragt. So ist es auch kein Wunder, dass das Werk im Zusammenhang mit dem diesjährigen Reformationsjubiläum als Beitrag zu finden ist. Außerdem verbindet sich das Werk mit anderen, in der Kunsthalle bereits fest installierten Arbeiten anderer Künstler. Es werden jedoch glücklicherweise keine Konkurrenzen geschaffen.


Felice Varini
Die vier Blauen Kreise am Marktplatz Osnabrück sind bis November 2017 zu sehen, die Farbinstallationen in der Kunsthalle Osnabrück bis Januar 2018
Kuratiert von Valérie Schwindt-Kleveman
Weitere Informationen
Weitere Informationen zum Künstler

Zur Ausstellung erscheint eine Broschüre mit Glossar und einem Vermittlungsprogramm gefördert durch die Felicitas und Werner Egerland Stiftung.
Die Ausstellung findet in Zusammenarbeit mit den Freunden der Kunsthalle Osnabrück e.V. statt. Diese erhielten Förderung und Unterstützung durch die Stiftung der Sparkasse Osnabrück. die COLLEGIUM Vermögensverwaltung AG und die H. Peschke Bedachungs GmbH. Förderer der Kunsthalle sind das Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur und die Stiftung Stahlwerk Georgsmarienhütte. Die Kunsthalle Osnabrück bedankt sich bei der Handwerkskammer Osnabrück-Emsland-Grafschaft Bentheim für die Unterstützung.


Abbildungsnachweis:
Header: Felice Varini, Trapeze und Dreiecke auf den Spitzen, Kunsthalle Osnabrück, 2017, Courtesy the artist. Foto: Claus Friede
Galerie:
01. und 02. Felice Varini: Vier Blaue Kreise, Aufbauphase, Courtesy the artist. Fotos: Claus Friede
03. Felice Varini: Vier Blaue Kreise, Ausbesserungsarbeiten, Courtesy the artist. Foto: Claus Friede
04. Felice Varini: Vier Blaue Kreise, Aufbauphase, Courtesy the artist. Foto: Valérie Schwindt-Kleveman
05. Felice Varini, Aufbauphase, Kunsthalle Osnabrück, 2017. Foto: Angela von Brill
06. Detail. Foto: Angela von Brill
07. Felice Varini, Trapeze und Dreiecke auf den Spitzen, Bögen und Zirkeltanz, Kunsthalle Osnabrück, 2017, Courtesy the artist. Foto: Angela von Brill
08. Felice Varini, Trapeze und Dreiecke auf den Spitzen, Kunsthalle Osnabrück, 2017, Courtesy the artist. Foto: Angela von Brill
09. Felice Varini, Trapeze und Dreiecke auf den Spitzen, Kunsthalle Osnabrück, 2017, Courtesy the artist, Foto: Claus Friede.
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