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Bildende Kunst

Zu Beginn der 1950er-Jahre formiert sich in London „The Independent Group“, eine Gruppe von Malern, Bildhauern und Architekten, Musikern und Kunstkritikern, welche gegen die Kunstauffassungen der Nachkriegsjahre rebellieren. Peter Blake und David Hockney, Allen Jones, Richard Smith, Peter Philips und der Amerikaner Ronald B. Kitaj haben gemeinsam am Londoner Royal College of Art studiert. Hinzu kommen der britische Maler und Grafiker Richard Hamilton, der in Edinburgh geborene Bildhauer Eduardo Paolozzi sowie die Architektengruppe Archigram um Alison und Peter Smithson und der Kunstkritiker Lawrence Alloway – Initiator der damaligen Londoner Ausstellung. Statt gefälliger Motive finden jetzt banale und triviale Bildmotive aus der modernen Medien- und Konsumgesellschaft Eingang in eine neue, populäre Kunst, die sich als Antikunst zum abstrakten Expressionismus und Konstruktivismus versteht. Grell-bunte Malereien, Collagen und Comicstrips, Installationen, Mode, Musik, Film und Fotografie verschmelzen mit dem quirligen Lebensgefühl der britischen Nachkriegsgeneration.

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Eduardo Paolozzi präsentiert 1952 der „Independent Group“ eine Serie von Collagen mit dem Titel „Bunk!“, entstanden Ende der 1940er-Jahre in Paris. Darunter „I was a Rich Man's Plaything", bei der neben einem Pin-up-Girl, einer Coca-Cola-Flasche und einem US-Bomber erstmals das Wort „Pop“ in der Pulverwolke eines Revolvers erscheint. „Pop“ soll zum weltweiten Synonym der Pop-Generation werden. Ende der Fünfzigerjahre beginnt der Siegeszug der Pop Art in den USA. Wird die britische Pop-Art-Bewegung noch stark von den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges bestimmt, inszenieren dagegen amerikanische Künstler wie Andy Warhol, Roy Lichtenstein, Mel Ramos Massenprodukte der Konsumwelt zu Lifestyle-Ikonen und damit zur Kunst – siehe Warhols „Campell‘s Soup Cons“ von 1965. Obwohl die Bewegung in England begonnen hat, ziehen amerikanische Pop-Künstler die mediale Aufmerksamkeit der Kunstszene auf sich und sehen sich als Erfinder dieser Kunstrichtung. Zu Unrecht, wie die Wolfsburger Schau zeigt. Die Pop Art beginnt in London!

Die rund 3.500 Quadratmeter große und sechzehn Meter hohe Ausstellungshalle ist im Untergeschoß und auf der Empore unterteilt in 26 Künstlerkabinette, welche Einblicke in die britische Pop-Geschichte ermöglichen. Die Schau spannt einen Bogen von Richard Hamiltons Multimedia-Installation „Fun House“, Eduardo Paolozzis frühen Collagen „Bunk!“ über Malereien, Fotografien und Plastiken, Filmplakate und Plattencover bis zum Höhepunkt und Ende von „Swinging London“.

Den Besucher empfängt eine Rekonstruktion von Richard Hamiltons „Fun House“, der ersten begehbaren Multimedia-Installation, realisiert für die Londoner Ausstellung „This is Tomorrow“. Eine Installation für alle Sinne: „Sehen Sie! Hören Sie! Riechen Sie! Fühlen Sie! Sprechen Sie!“ Rotierende Farbscheiben, Filmsequenzen, ein Erdbeerduft verströmender schwarzer Noppenboden, Musik aus einer alten Jukebox, ein riesiger Science-Fiction-Roboter mit blinkenden Augen und Schaltbrettmund, Collagen mit amerikanischen Leinwandidolen und eine große Werbeflasche der Guinness-Brauerei machen die Installation zu einem sinnlichen Erlebnis.

Für die damalige Ausstellung kreiert Hamilton übrigens die kleine Collage „Just what is it that makes today's homes so different, so appealing?“ – heute eine Ikone der Pop Art. Ein Wohnzimmer der fünfziger Jahre, ein Mann und Frau fast nackt, genießen das moderne Zuhause mit Couchgarnitur, Gummibaum und Bildern, Dosenfleisch, luxuriösen Konsumgüter wie Staubsauger, Fernseher und Tonbandgerät. Der Mann hält einen überdimensionalen roten Lutscher vor den durchtrainierten Körper. Darauf steht: Pop.

Zu Anfang des Rundganges zeigt die Wolfsburger Schau Fotografien und Collagen von Nigel Henderson, Dokumentarfilmer, Fotograf, Künstler und Gründungsmitglied der Independent Group. Seine Fotoarbeiten dokumentieren die Zerstörungen Londons nach dem Zweiten Weltkrieg: von Bomben verwüstete Häuser und Straßen, spielende Kinder in der Chisenhale Road, Straßenszenen, Verkaufsstände am Petticoat Lane Market und Straßenfeste aus Anlass der Krönung Elisabeth II. im Juni 1953. Auch in Hendersons Collagen dominieren britische Bildmotive: Fragmenten aus Fotografien und Zeitungsausschnitten, Busfahrkarten, Zigarettenbilder, Scrapbooks (Sammelalben) und Verpackungsmaterial.
Als 1962 das Royal College of Art David Hockney die goldene Medaille für Malerei verleiht, erscheint der Künstler mit Goldlaméjacke und wasserstoffblonder Perücke - frei nach dem Film „Blonds have more fun“. Vor dem Hintergrund der sexuellen Befreiung der Swinging Sixties malt Hockney, schillernder Exzentriker der Gruppe, in den Bildern sein verstecktes Coming-Out als Homosexueller. Er bedient sich der Schrift, welche den Bildinhalt mal verschlüsselt, mal explizit kommentiert: „The First Love Painting“, „We Two Boys together Clinging“ oder „Going to Be a Queen for Tonight“.

Das in der Pop Art allgegenwärtige Thema Sex bestimmt in den 1960er- und 1970er-Jahren auch die Arbeiten von Allan Jones, welche heute noch ein Reizthema für Feministinnen sein dürfte. Vor allen Dingen seine Skulpturen – weibliche Figuren aus Fiberglas in schwarzen Korsagen und Schaftstiefeln sind zu Tisch und Sessel verarbeitet – machen auch den heutigen Betrachter etwas ratlos. Sind es Posen der Benutzung und Unterwerfung, um sexuelle Männerphantasien anzuheizen? Auch in seinen abstrakt-figurativen Malereien setzt sich der Künstler mit der Geschlechterbeziehung und der erotischen Anziehungskraft des weiblichen Geschlechts auseinander. Dies zeigt sich in „Thinking about Women“ oder „Figure Falling“. Seine mit Nylon-Strümpfen und hochhackigen Schuhen bekleideten Frauenbeine „First Step“ haben längst ikonenhaften Status erreicht.

Zu entdecken sind weitere Arbeiten, darunter von Peter Blake, Ronald B. Kitaj, Peter Phillips und Gerald Laing, Patrick Caulfield, Antony Donaldson, Colin Self und Joe Tilson. Ferner die futuristischen Architekturentwürfe von Alison und Peter Smithson und Cedric Price. Dass Gleichberechtigung in der britischen Pop-Szene offensichtlich keine Rolle gespielt hat, zeigt sich an der männlichen Dominanz seiner Protagonisten. Nur zwei Frauen, Pauline Boty und Jann Haworth, haben es mit eigenen Werken in die Wolfsburger Ausstellung geschafft. Waren Frauen in der Pop-Kunstszene nicht aktiv?

Der Ausstellungsparcour endet mit dem Künstlerfilm von James Scott und Richard Hamilton aus dem Jahr 1969. Anlass war die Verhaftung von Mick Jagger und Keith Richards von den Rolling Stones sowie des Londoner Galeristen Robert Fraser wegen Drogenkonsums im Februar 1967. Hamiltons Bildserie „Swingeing London“ basiert auf einem Pressefoto, das Jagger und Fraser in Handschellen bei dem Polizeitransport zeigen. Die beiden Stones-Mitglieder kommen nach einem Prozess übrigens wieder frei, Fraser wird wegen Drogenbesitzes zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Die informative und sehenswerte Ausstellung „This Was Tomorrow. Pop Art in Great Britain“ – nicht nur für Liebhaber der Pop Art – ist bis zum 19. Februar 2017 zu besichtigen.

Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1, 38440 Wolfsburg

Die Öffnungszeiten sind dienstags bis freitags von 11 bis 18 Uhr.
Zur Ausstellung erscheint im Wienand Verlag ein gleichnamiger Katalog in deutscher und englischer Sprache.
Erhältlich im Museumsshop für 38 €.
www.kunstmuseum-wolfsburg.de

Einführungsfilm auf YouTube: This Was Tomorrow. Pop Art in Great Britain (9:23 Min)


Abbildungsnachweis:
Header: Richard Hamilton, John Voelcker und John McHale; "FUN HOUSE", 1956/1987. Rekonstruktion 1987 der Installation von 1956
für die Ausstellung „This Is Tomorrow” in der Whitechapel Gallery, London. Holz, Metall und andere Materialien, 415x600x300cm. Generalitat. Donación del artista. © IVAM, Institut Valencià d’Art Modern
Galerie:
01. Blick in die Ausstellung This was Tomorrow, 2016. Foto: Marek Kruszewski
02. Peter Blaken "CHILDREN READING COMICS", 1954, Öl auf Hartfaserplatte, 36,7x47,1cm. Tullie House Museum and Art Gallery Trust, Carlisle. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
03. Peter Blake "THE BEATLES 1962", 1963-1968, Acryl auf Hartfaserplatte, 122x91,6cm. (Wilson Gift through The Art Fund, 2004). © Pallant House Gallery, Chichester
04. Eduardo Paolozzi "I WAS A RICH MAN'S PLAYTHING", 1947, Bedrucktes Papier auf Karton, Unikat, 35,9x23,8cm. © Tate, London 2016
05. Eduardo Paolozzi "BUNK!", 1972, Kassette mit 46 Collagen, Siebdrucken und Lithografien. Collection Würth. © Trustees of the Paolozzi Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
06. R.B. Kitaj "GOOD NEWS FOR INCUNABULISTS", 1962, Öl auf Leinwand, 155x155cm. Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Munich. © Estate of R.B. Kitaj, Courtesy Marlborough Fine Art, London
07. Allen Jones "CHAIR", 1969, bemalte Glasfasern, Kunstharz, Plexiglas, Mixed Media und maßgeschneidertes Zubehör, 78x96x57cm. More Gallery, Giswil, Schweiz. © Christie’s Images Limited
08. Richard Hamilton, John Voelcker and John McHale "FUN HOUSE", 1956/1987. Rekonstruktion 1987 der Installation von 1956 für die Ausstellung „This Is Tomorrow” in der Whitechapel Gallery, London. Holz, Metall und andere Materialien, 415x600x300cm. Generalitat. Donación del artista. © IVAM, Institut Valencià d’Art Modern
09. Blick in die Ausstellung This was Tomorrow, 2016. Foto: Marek Kruszewski
10. Gerald Laing "C. T. STROKERS", 1964, Öl auf Leinwand, 152x244cm. © Thomas Schiela, Germany
11.
Cedric Price "FUN PALACE: INTERIOR PERSPECTIVE", about 1964, Rosa und grüner Stift auf Reprografie, 26,4x40,4cm. © Cedric Price Fonds / Canadian Centre for Architecture, Montréal
12. BLOW-UP, 1966, Filmplakat, Italien, 140x100cm. © private collection Christopher Gregory, London. Foto: Geoffrey Reeve.

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