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Bildende Kunst

Woher kommt die Faszination für diese Kunstrichtung, die bis heute nichts von ihrer Anziehungskraft verloren hat? Der Surrealismus, zu Beginn der 1920er-Jahre in Paris um den französischen Literaten André Breton entstanden, war eine Protestbewegung der Avantgarde gegen die bürgerlichen Normen der Gesellschaft, gegen das Elend nach dem Ersten Weltkrieg, gegen den Kapitalismus, die Reichen und Kriegsgewinnler in den sogenannten Goldenen-Zwanziger-Jahren. Künstler wie René Magritte und Joan Miró, Man Ray, Luis Buñuel, Salvador Dalí und Max Ernst schlossen sich diesem Kreis an.

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Beeinflusst von Sigmund Freuds Psychoanalyse, suchte die Surrealisten-Gruppe die eigene Wirklichkeit im Unterbewusstsein, im Irrationalen. In ihren parallelen Bilderwelten verschmelzen Erinnerungen, Träume und Phantasien, vertraute Gegenstände erscheinen in ungewöhnlicher oder verfremdeter Form. Bildthemen und Motive werden jedoch von den Künstlern individuell gestaltet, sodass sich innerhalb des Surrealismus zwei Stil-Richtungen bildeten: der veristische (naturalistische) und der absolute (abstrakte) Surrealismus. Der veristische Surrealismus hält an einer wahrheitsgetreuen, sich am Gegenständlichen orientierenden Darstellung fest. So tauchen in Dalís Bildern zum Beispiel schmelzende Uhren oder brennende Giraffen auf. Dagegen vertritt Joan Miró mit seinen farbenfrohen, stark abstrahierten und amorphen Figurationen die absolute oder abstrakte Richtung des Surrealismus. Die erste Gemeinschaftsausstellung surrealistischer Künstler fand im November 1925 in der Pariser Galerie Pierre statt und sorgte für internationale Aufmerksamkeit. Vor allen Dingen bei den Sammlern.

Im ersten Raum der Hamburger Schau werden die Sammler Roland Penrose, Edward James, Gabrielle Keiller, Ulla und Heiner Pietzsch vorgestellt. Die vier, heute teils in alle Welt verstreuten Sammlungen, verdeutlichen die jeweiligen Sammlerschwerpunkte. „Ich will die Blicke dieser vier Sammler-Persönlichkeiten zeigen. Es sind vier Identifikationsfiguren, mit denen man den Surrealismus neu entdecken kann“, so Kuratorin Annabelle Görgen-Lammers. Dokumente, Fotografien, Skizzen, Werklisten, persönliche Gegenstände und Korrespondenzen informieren den Besucher über die engen Beziehungen von Künstlern, Förderern und Sammlern.

Zu den Sammlern der ersten Stunde gehörten der in Paris lebende Brite Roland Penrose und sein Landsmann Edward James, welche bereits in den 1930er-Jahren umfangreiche Surrealismus-Sammlungen anlegten. Die Schottin Gabrielle Keiller begann ab den 60er-Jahren Surrealisten zu sammeln, nachdem sie in Venedig Peggy Guggenheims Sammlung kennen gelernt hat. Neben Meisterwerken surrealer Kunst erwarb sie aber auch historische Dokumente, Zeitschriften, Künstlerbücher und Manuskripte dieser Kunstbewegung. Seit den Siebzigerjahren sammelt das Berliner Ehepaar Ulla und Heiner Pietzsch surreale Kunst. Ihre umfangreiche Kunst-Sammlung erzählt die Geschichte der surrealistischen Bewegung im Paris des 20. Jahrhunderts.

Im Filmraum werden kurze Filme zu den Sammlern James Edward, Robert Penrose, Gabrielle Keiller sowie Ulla und Heiner Pietzsch gezeigt. Als Einstieg in die umfangreiche Schau sehr zu empfehlen.

Neben den Ikonen des Surrealismus Dalí, Ernst, Miró, Magritte trifft der Besucher auf hochkarätige Arbeiten von Pablo Picasso, Marcel Duchamp, Alberto Giacometti, Hans Arp, Yves Tanguy, André Masson, Paul Delvaux, Giorgio de Chirico. Und den in Deutschland weitgehend unbekannten Surrealistinnen Leonora Carrington, Dorothea Tanning und Leonor Fini.

Wie andere Surrealisten holt sich der in Brühl bei Köln geborene Max Ernst seine künstlerischen Ideen aus seinen Träumen und Phantasien. Seine düsteren, zum Teil bizarren Landschaften verwischen die Grenzen zwischen Traumwelt und Wirklichkeit. Traum- und Mischwesen, Ungeheuer und Dämonen bevölkern seine verrätselte Bilderwelt. So auch in seinem Dschungel-Gemälde „La Joie de vivre (Die Lebensfreude)", wo sich zwischen den grünen Blättern Albtraum-hafte Wesen verstecken. Dagegen erinnert „Jeune homme intrigué par le vol d’une mouche non-euclidienne (Junger Mann beunruhigt durch den Flug einer nicht neu-euklidischen Fliege)" eher an ein Atommodell, in dem Elektronen ellipsenförmig um einen Kern kreisen.

Der Belgier René Magritte, ein Vertreter des veristischen (naturalistischen) Surrealismus, irritiert mit seinen mysteriösen Illustrationen von Menschen und Räumen die Denk- und Sehgewohnheiten des Betrachters, indem er reale Darstellungen von Personen und Gegenständen durch
ungewöhnliche Konstellationen verfremdet. Das Magritte-Kabinett zeigt unter anderem ein Porträt von Edward James „La reproduction interdite (Reproduktion verboten)", einen Mann, der den eigenen Hinterkopf im Spiegel betrachtet. Beeindruckend auch seine surreale Landschaft „La jeunesse illustrée (Die illustrierte Jugend)" oder „Le modèle rouge III (Das rote Modell III)".

Joan Miró, der 1927 verkündete, er wolle die Malerei ermorden, gehört heute zu den prominentesten Vertretern des Surrealismus. Beeinflusst durch die neue Kunstrichtung, entwickelt der Spanier seine charakteristischen Traumbilder aus Farben, abstrahierten Linien und biomorphen Formen, Metaphern und Symbolen. In „Tête de Paysan Catalan (Kopf eines katalanischen Bauern)" malt er auf blassblauem Malgrund eine rote Barretina, die traditionaelle Kopfbedeckung der katalanischen Männer, wolkenartige Gebilde, zwei Gestirne und züngelnde Flammen. Die einzelnen Bildmotive scheinen zu schweben, sind aber durch ein Liniengerüst miteinander verbunden.

Im Dali-Raum dominieren das Mae-West-Lippensofa, das Hummer-Telefon, ein Stuhl mit einer Rückenlehne aus erhobenen Armen und das über vier Meter breite Triptychon „Landscape with a Girl Skipping Rope (Landschaft mit seilspringendem Mädchen)". Sie lassen Dalis andere, bekannte Gemälde wie den Frauenkörper mit Schubladen „Le cabinet anthropomorphique (Der anthropomorphe Kabinettschrank)" fast in den Hintergrund treten. „Paranoisch-kritisch" nennt der Katalane seine virtuosen, mit malerischer Perfektion und fotografischer Detailtreue gemalten Bilderwelten, die dem Unwahrscheinlichen und Traumhaften den Charakter von Wirklichkeit verleihen sollen.

Ein weiterer Höhepunkt ist der Themenraum „Mythen des Weiblichen", der das idealisierte Frauenbild der Surrealisten zum weiblichen Geschlecht thematisiert. Diente doch die Frau den Künstlern als geheimnisvolles Naturwesen mit magischen Fähigkeiten, als Muse, Modell, Geliebte oder Ehefrau und zur Inspiration des eigenen schöpferischen Genius. Die Frau als männliches Phantasiekonstrukt? Der Gruppe, zunächst eine reine Männerdomäne, schlossen sich Ende der 1920er-Jahre Leonora Carrington, Dorothea Tanning und Leonor Fini an. Allerdings blieben sie aufgrund der männlichen Dominanz eher eine Randerscheinung der surrealistischen Bewegung. Zu Unrecht, wie die mystischen Kompositionen einer Dorothea Tanning zeigen, die fantastischen Szenarien von Leonora Carrington, oder die rätselhaften Frauengestalten von Leonor Fini.

Der Katalog zur Ausstellung „Dalí, Ernst, Miró, Magritte … Surreale Begegnungen“, herausgegeben von Annabelle Görgen und Hubertus Gaßner, ist im Hirmer Verlag erschienen. Der Ausstellungskatalog enthält neben zahlreichen Abbildungen der ausgestellten Werke auch umfangreiche Hintergrundinformationen zu den vier präsentierten Sammlungen von Roland Penrose, Edward James, Gabrielle Keller sowie Ulla und Heiner Pietzsch.

Die Ausstellung „Dalí, Ernst, Miró, Magritte ..." ist bis zum 22. Januar 2017  zu sehen.

Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall 5, 20095 Hamburg.

Die Öffnungszeiten sind Dienstag–Sonntag von 10–18 Uhr, Donnerstag von 10–21 Uhr. Montag geschlossen
www.hamburger-kunsthalle.de

YouTube-Video:
Dali, Ernst, Miro, Magritte: Surreale Begegnungen (in engl. Sprache mit deutschen Untertiteln)


Abbildungsnachweis:
Header: Salvador Dalí (1904–1989): "Mae West Lips Sofa (Mae-West-Lippensofa)", 1938; Holz, Wolle, 92x215x66cm. Ehemals Sammlung Edward James. Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam. © Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Galerie:
01. Max Ernst (1891–1976): "La joie de vivre (Die Lebensfreude)", 1936; Öl auf Leinwand, 73,5x92,5cm. Ehemals Sammlung Roland Penrose
Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburgh. Erworben mit Unterstützung des Heritage Lottery Fund und des Art Fund 1995. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
02. René Magritte (1898–1967): "La reproduction interdite (Reproduktion verboten)", 1937; Öl auf Leinwand, 81,5x65,5x2cm. Ehemals Sammlung Edward James. Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
03. Leonor Fini (1907–1996): "Due Donne (Zwei Frauen)", 1939; Öl auf Leinwand, 34x24,5cm. Sammlung Ulla und Heiner Pietzsch, Berlin. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. Foto: Jochen Littkemann, Berlin
04. Max Ernst (1891–1976): "Jeune homme intrigué par le vol d'une mouche non-euclidienne (Junger Mann, beunruhigt durch den Flug einer nicht- euklidischen Fliege)", 1942-47; Öl und Lack auf Leinwand, 82x66cm. Sammlung Ulla und Heiner Pietzsch, Berlin. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. Foto: Jochen Littkemann, Berlin
05. Joan Miró (1893–1983): "Peinture (Malerei)", 1927; Öl auf Leinwand, 33x24,1cm. Ehemals Sammlung Gabrielle Keiller. Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburgh, Nachlass Gabrielle Keiller 1995. © Successió Miró / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
06. Leonora Carrington (1917–2011): "Portrait of the Late Mrs. Partridge (Porträt der verstorbenen Mrs. Partridge)", 1947; Öl auf Holz, 100,3x69,9cm. Ehemals Sammlung Edward James. Privatsammlung. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016.

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