Bildende Kunst

Fenster, immer wieder Fenster. Durch alle Schaffensperioden zieht sich dieses Motiv bei Picasso. Angefangen bei den überwiegend düsteren Ölskizzen um 1900, in der der blutjunge Künstler sich zaghaft von der Tradition löst und nach seiner eigenen Bildsprache sucht, bis zu dem kraftstrotzend euphorischen Alterswerk der 1950er Jahre, in der Picasso - frisch verliebt in die junge Jacqueline Roque - seine physische und psychische Potenz mit farbenfroh-fröhlichen Interieurs unter Beweis stellt.

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Wie immer in den vergangenen Jahren fängt der Rundgang durch die Ausstellung in der oberen Etage statt. Doch der Auftakt hier bleibt diesmal hinter den Erwartungen zurück. Die kleinen Formate aus dem ersten Atelier des erst 18-jährigen Picasso in Barcelona mögen ja durchaus überraschende Einsichten bieten. Die Beobachtungen der Berliner Malerin Esther Horn, dass sich das Fenster in dem Gemälde „Interieur“ von 1900 hier nicht nur als Ausblick auf eine Schneelandschaft, sondern auch als Rückseite einer auf Keilrahmen gezogenen Leinwand lesen lässt, führte zu der Ausstellungsthese, dass Picasso mit dem Fenster Grundfragen der bildenden Kunst thematisierte, die immer auch ein Nachdenken des Künstlers über sich selbst beinhalte. Das Fenster als Mittel künstlerischer Selbstreflexion also, als Symbol der Malerei schlechthin, als Grenze zwischen innerer und äußerer Welt.

Darüber lässt sich zweifellos lange philosophieren, gleichwohl wirkt der obere Raum etwas lieblos und leer. Auch wenn man der Auffassung ist, dass „Paulo als Pierrot“ (1925), das neoklassizistische Porträt von Picassos Sohn im Harlekinkostüm vor dem offenen Fenster als ein wichtiges Bild der Frühzeit viel Raum braucht, so wirkt es hier doch etwas arg verloren.

Ganz anders der Eindruck im Erdgeschoss: Hier hängen Fensterbilder aller Schaffensperioden dicht an dicht vereint und bieten dem Besucher den opulenten, gleichwohl komprimierten Blick auf ein Werk, den man vom Bucerius Kunst Forum gewohnt ist. Rund 90 Leihgaben aus internationalen Museen belegen eindrucksvoll, wie treu Picasso dem Fenster-Motiv zeitlebens blieb. Besonders hervorzuheben sind die rund 50 Schwarz-Weiß-Aufnahmen von befreundeten Fotografen wie Henri Cartier-Bresson, Brassai, Denise Colomb, vor allem aber von dem amerikanischen Fotojournalisten David Douglas Duncan, die Picasso vor und am Fenster zeigen, an seiner Seite meistens die 45 Jahre jüngere Jacqueline Roque, Picasso letzte Lebensgefährtin und zweite Ehefrau.

Ohne Frauen ist Picasso eigentlich gar nicht denkbar. Sie waren zeitlebens der Dreh- und Angelpunkt seines Schaffens. Frauen als Mütter und Musen, als Märtyrerinnen und mythologische Gestalten. Frauen in Verbindung mit Fenstern üben einen ganz besonderen Reiz aus: Marie-Thérèse als „Frau am Fenster sitzend“ (1932) oder die „Liegende mit Buch“ (1939) erscheinen unerhört geheimnisvoll und traumverloren. Die Fenster zeigen hier keine Ausblicke zeigen, sondern sind monochrom „zugemalt“ und somit ebenfalls als Leinwandrückseite mit Keilrahmen interpretierbar. Während die Fensterbilder der 30er-Jahre voller innerer Harmonie und einer fast kontemplativen Konzentration auf das Private sind, sprechen die Fensterbilder des Zweiten Weltkrieges eine ganz andere Sprache.
Jeder einzelne Pinselstrich scheint starr vor Angst und Schrecken, ist umfasst von dicken schwarzen Konturen. Das Fenster steht offen, doch die Welt draußen ist aus den Fugen geraten – festgehalten in der harten, kantigen Formensprache des Kubismus, der ursprünglich nur für die Aufsplitterung der Form stand, nun aber die Zerstörung des Krieges symbolisiert. Selbst einfachste Motive wie der „Tomatenstock“ (1944) zeugen von Leid, Entbehrungen und dem Rückzug in einen Raum, der fast klaustrophobisch eng und beklemmend wirkt.

Ganz anders das farbenfrohe, verspielte Alterswerk, das ab Mitte der 50er-Jahre in Südfrankreich entsteht. Nach dem Tod von Henri Matisse malt Picasso in seinem neuen Atelier in der Villa La Californie in Cannes zauberhafte Interieurs als Reminiszenz an seinen langjährigen Freund. Durch die Fenster scheinen nun die Palmen der Cote d’Azur und davor sitzt seine neue Liebe Jacqueline. Der neue Lebensabschnitt, der mit ihr begann, führte zu einer geradezu überbordenden Bilderproduktion, in der Picasso wie besessen gegen den Tod anmalte. Doch das ist ein anderes Thema.

„Picasso. Fenster zur Welt“ zu sehen bis 16.5. im Bucerius Kunst Forum, Rathausmarkt 2, 20099 Hamburg.
tägl. 11-19 Uhr, Do bis 21 Uhr. Eintritt 8 Euro, erm. 5 Euro.
Weitere Informationen


Abbildungsnachweis:
Header: Robert Doisneau: Die Lebenslinie (Detail), 1952, Atelier Robert Doisneau, Montrouge, © Robert Doisneau/Rapho
Galerie:
01. Pablo Picasso (1881-1973): Liegende mit Buch, 1939, Musée national Picasso, Paris, © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
02. Ausstellungsansicht "Picasso. Fenster zur Welt", Foto: Ulrich Perrey
03. Pablo Picasso (1881-1973): Frau am Fenster sitzend. Marie-Thérèse, 1932, Privatsammlung © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
04. Pablo Picasso (1881-1973): Der Schatten, 1953, The Israel Museum, Jerusalem, © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
05. Pablo Picasso (1881-1973): Das Atelier, 1955, Tate, London, © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
06. Ausstellungsansicht "Picasso. Fenster zur Welt", Foto: Ulrich Perrey
07. Pablo Picasso (1881-1973): Interieur, 1900, Museu Picasso, de Barcelona, © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
08. Pablo Picasso (1881-1973): Paulo als Pierrot, 1925, Musée national Picasso, Paris, © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
09. Ausstellungsansicht "Picasso. Fenster zur Welt", Foto: Ulrich Perrey