Architektur


Die Idee ist hochgradig sympathisch wie pfiffig; Bauten eine menschliche Stimme zu verpassen und sie über ihr Innenleben und ihre Vita berichten zu lassen. Damit Nähe, ja Wärme, eben Empathie zu schaffen – was zusätzlich mitschwingt, wenn die Erzählerin Meret Becker heißt, und Zitate von Dostojewski und Gogol von Gennadi Vengerov vorgetragen werden. Mit der so anthropomorphisierten Architektur gelingt es Wim Wenders, dem Initiator und Produzenten des dreistündigen internationalen Filmprojektes, spielerisch Zugang zu den jeweiligen Architekturikonen zu verschaffen und das Verständnis des Publikums für seine gebaute Umwelt zu öffnen.
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Die drei Stunden währende Reise mit insgesamt sechs Architekturstationen beginnt gleich mit einem Superlativ an Moderne, der Philharmonie in Berlin. Wir folgen „Diego“, einem technik- und musikbegeisterten Schüler, nach seinem Schulschluss im Eiltempo durch einen in Herbstlichbraun getünchten Waldweg, der im urbanen Gewusel am Potsdamer Platz mündet und uns von da aus hineinträgt: mitten in die Probeaufnahmen der Berliner Philharmoniker. Über langjährige, treue Weggefährten des Gebäudes wie Hellmut Stern, selbst Musiker und Mitglied von erster Stunde an, Sir Simon Rattle, dem aktuell residierenden Dirigenten und einem der Nachfolger des ersten Chefdirigenten Herbert von Karajan, weitere Protagonisten wie Musiker, Techniker und eine Restauratorin, denen wir wie zufällig dort begegnen, spannt sich allmählich ein Weg durch das Gebäude. So lernen wir es Schritt für Schritt bis in dessen Kern, dem Dirigentenzimmer, kennen.

Was macht die magische Aura, das so Revolutionäre aus, das diesem zwischen 1956-1963 in West-Berlin errichteten Gebäude mit dem ulkigen, circusähnlichen Äußeren anhaftet? Allein das Entstehungsjahr markiert eine besondere Chronik, steht – apropos genius loci – der Bau der direkt angrenzenden Berliner Mauer doch bereits 1961 in seinen Startlöchern und der Stadt ihre Zweiteilung bevor. In der bauhistorischen Kette von Konzerthäusern ist die Berliner Philharmonie auch deshalb ein Meilenstein, da sein Architekt Hans Scharoun (1893-1972) den Ort, an dem die Musik für gewöhnlich spielt, außerordentlich innovativ positioniert: Der Dirigent und sein Orchester stehen im Zentrum des Geschehens und sind amphitheater-gleich von jeder Perspektive akustisch wie optisch hervorragend wahrnehmbar. Die organische Form ist also aus dem fünfeckigen Inneren heraus entwickelt. In dem zu Willy Brandts Regierungszeit entstandenen und inzwischen denkmalgeschützten Gebäude scheint es förmlich nach Transparenz zu schreien: Das Innen ist nach Außen gestülpt, alles ist organisch miteinander verbunden, die Räume sind offen und fließen ineinander über, wirken sie noch so tänzelnd-verschachtelt. Wenn sie könnte, würde die Philharmonie ungeniert berlinerisch über sich selbst sagen, „ein utopisches Abbild einer gesellschaftlichen Schichtung“ zu sein.

Hans Scharoun hat mit seiner für Offenheit und Aufbruch stehenden Berliner Philharmonie zweifelsfrei ein architektonisches Vermächtnis geschaffen, der Wim Wenders wiederum mit einer 30minütigen filmischen Widmung kunstvoll huldigt. Er lässt den schiffartigen Bau nicht nur sprechen, durchdringt nicht nur Materie wie Materialien, er lässt auch seinen Erschaffer durch Bildsequenzen „spazieren“ und suggeriert für einen verblüffend langen Moment, alles könnte sich in Echtzeit abspielen: Die Szenenüberblendungen von Schwarz-weiß zu Farbe, die perfekte Überlagerung der Zeiten und historischen Ereignisse, dies alles ist mit solch einer Raffinesse bewerkstelligt, dass auch die Simulation eines durch die aktuelle Bausituation durchlaufenden Hans Scharoun mit Zigarre im Mund wie selbstverständlich, fast gegenwärtig wirkt. Nach Wim Wenders cineastischem 3D-Exkurs in die Berliner Philharmonie ist einem sogleich nach einem Abstecher nach Berlin und ins besagte Musikhaus. Rachmaninow? Strawinsky? Sir wer? Wieso, ich wollte zu Scharoun, bitte.

Die skizzierten Architekturwerke der Moderne führen uns nach Wim Wenders Hommage an die Berliner Philharmonie an folgende weitere Entdeckungsorte: Mit Michael Glawoggers Interpretation der Russischen Nationalbibliothek gelangen wir nach St. Petersburg, mit Michael Madsens Porträtierung zum „humansten Gefängnis der Welt“, dem Halden Gefängnis nach Norwegen. Von dort wir mit Margreth Olins Vorstellung die Welt der Osloer Oper kennenlernen und uns von hier in das von Robert Redford inszenierte Salk Institut in Kalifornien hieven lassen, um – last but not least – mit Karim Aïnouz’ Einführung ins Centre Pompidou in Paris zu landen.

Ob hierbei eine besonders ausgetüftelte Mapping-Strategie besteht, sich ein numerologischer Anlass hinter den sechs Architekturporträts verbirgt beziehungsweise die Gesamtheit aller ein auf die Architekturwelt bezogenes Postulat ergeben soll, bleibt zunächst unerschlossen. Fest steht jedenfalls, dass es sich bei allen sechs internationalen Protagonisten um öffentliche Gebäude handelt, die am ehesten dem breitgefächerten Modernismus zuordenbar sind. Ihnen allen ist zusätzlich gemein, mittels der Anthropomorphisierung die Fähigkeit erlangt zu haben, Emotionen zu entwickeln. Durch Off-Stimmen berichten sie uns über ihr Eigenleben und stellen nebenbei ihre Kommunikations- und Dialogfähigkeit mit ihren Rezipienten und potenziellen Nutzern unter Beweis. Mehr noch, sie sind wahre Erzählkünstler und nehmen uns jeweils in einer festgelegten Zeitspanne von knapp 30 Minuten auf eine Reise mit, in ihre höchstpersönliche Geschichte.

Alles Projektionen? Allen voran der pure Architektentraum, Emotionen über Motionen zu schaffen: der Statik Beine zu machen, tektonischen Standbildern zur Bewegung zu verhelfen, so paradox das auch anmuten mag. Welches Medium ließe sich dafür geeigneter einsetzen als der Film? So verwundert es auch nicht, dass immer mehr Architekten und Architekturbüros, die etwas auf sich halten, nach filmischen Mitteln greifen, um ihre synergetischen Zukunftsprojekte (zu Bauherren) sprechen zu lassen. In „Kathedralen der Kultur“ sind es renommierte Profis der Filmbranche, die sich diesem Wunschtraum plakativ nähern und dabei ihr persönliches Bild kreieren. Es lohnt sich, in diese Bilder einzutauchen. Am besten auch zu den Geburtsorten der Originale zu pilgern, Ort und Gebäude im persönlichen Dialog kennenzulernen und der Kultur zu huldigen. Kirchen und Kathedralen – mal von fleißig fotoknipsenden Touristen und umtriebigen Managern von Kirchentagen abgesehen - stehen weltweit immer häufiger leer, und das bei tangential steigender Weltbevölkerung. Munteren Zulauf erhalten indes andere Kultstätten und modernere Religionspraktiken, sie wissen schon welche... Hingehen!

Kathedralen der Kultur

3D-Dokumentarfilm
Wim Wenders (Produktion), D/ RUS/ NO/ USA/ FR, 2014, 156 Min.

Die sechs Architekturstationen in Kathedralen der Kultur (chronologisch):
Die Berliner Philharmonie, 1956-1963 [Hans Scharoun] | Berlin, D [R: Wim Wenders]
Die Russische Nationalbibliothek, 1842 [Carlo Rossi] | St. Petersburg, RUS [R: Michael Glawogger]
Das Halden Gefängnis [Erik Møller], 2010 | Halden, NO [R: Michael Madsen]
Das Oslo Opernhaus [Snøhetta/ Tarald Lundevall], 2008 | Oslo, NO [R: Margreth Olin]
Das Salk Institut [Louis I. Kahn], 1959-1965| La Jolla, Kalifornien, USA [R: Robert Redford]
Das Centre Pompidou [Renzo Piano, Richard Rogers, Peter Rice], 1972-1977 | Paris, FR [R: Karim Aïnouz]

Arzun Kolcu (Dipl.-Ing. Architektur), lebt und arbeitet in Hamburg, hat Architektur an der École d’Architecture de Nantes und der HafenCity Universität Hamburg studiert. Ihr besonderes Interesse gilt innovativen Kunst- und Museumskonzepten. Ihre in Büros für Architektur und Stadtplanung und architektur-affinen Unternehmen gesammelten Erfahrungen setzt sie heute freiberuflich an der Schnittstelle von Architektur, Urbanismus, Kunst und Grafik in Hamburg ein. Aktuell sind ihre Tanzfotografien noch bis 24.08.2014 in der x-pon-art-Galerie im Hamburger Münzviertel zu sehen.


Abbildungsnachweis:
Header: Russische Nationalbibliothek. Foto: Wolfgang Thaler
Galerie:

01. Philharmonie Berlin. Foto: Wim Wenders
02. Halden Gefängnis. Foto: Heiki Färm
03. Opernhaus Oslo. Foto: Öystein Mamen
04. Salk Institut. Foto Alex Falk
05. Centre Pmpidou. Foto: Ali Olcay Gotzkaya.