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Architektur

„Anfangs hatten die Leute echt Angst davor, was hier passiert“, sagt Tim Mälzer. Angst vor einem geleckten Schickimicki-Laden, der wie ein Fremdkörper über der Schanze thront und den sozialen Umstrukturierungsprozess, der hier seit Jahren im Gange ist, nur noch beschleunigt. Aber das hatten Mälzer und sein Partner nicht vor. Sie wollten ein „Lieblingsrestaurant für alle Lebenslagen“, wie es heute auf der Homepage, doch davon mussten sie die Nachbarschaft erst einmal überzeugen. Alteingesessene wie Peter Haß, der 1979 am Schulterblatt die „Buchhandlung im Schanzenviertel“ gründete und sich im Arbeitskreis „Recht auf Stadt“ engagiert. Nach Eröffnung der „Bullerei“ im Juli 2009 lud ihn der Fernsehkoch gemeinsam mit drei weiteren Schanzen-Persönlichkeiten ein, um für Sympathie zu werben und seine Vorstellungen darzulegen. Durchaus mit Erfolg: Zwar sei das Restaurant, so Haß, „natürlich Teil der Gentrifizierung, allein schon weil der Tourismus noch mal angestiegen ist“. Andererseits würde man Mälzers Engagement im Viertel durchaus anerkennen: Mal eine Suppe fürs Schanzenfest, mal ein Weihnachtsessen für Obdachlose – solche Aktionen werden honoriert: „Das sieht man schon daran, dass ihm keiner was getan hat“.

Gefreut hat die Anwohner insbesondere die Instandsetzung des historischen Bestandes: „Der Erhalt eines Hauses ist uns immer lieber als Abriss und neue Glaspaläste“, sagt Haß. Sein Fazit: „Es hätte wirklich schlimmer kommen können“.
Das hätte es, in der Tat: Die Sensibilität, mit der die Fleischgroßmarkt Gesellschaft und das Architekturbüro Giorgio Gullotta hier zu Werke gegangen sind, ist in Hamburg keineswegs selbstverständlich. Flüchtig betrachtet wirken die 100 Jahre alten „Hallen für Kälber und Versandschweine“ von außen unverändert – nur nicht mehr so schäbig und heruntergekommen wie in den vergangenen Jahren. Bereits das urige Kopfsteinpflaster auf dem Parkplatz ist vertraut – dabei war es jahrzehntelang unter einer hässlichen Asphaltdecke versteckt. Gullotta ließ es wieder freilegen, was einen nicht unerheblichen zusätzlichen Kostenfaktor bedeutete. Doch bei diesem rund Viereinhalb-Millionen-Projekt bewies auch Frank Seitz, Geschäftsführer des Fleischgroßmarkts, Liebe zum Detail: „Ein Traum-Bauherr“, schwärmt der Architekt und gelernte Zimmermann. „Ich hatte völlig freie Hand. Selbst die Türschilder sind von Topqualität“.

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Bei der ersten Besichtigung im Winter 2006 fand Gullotta ein erbarmungswürdiges Gebäude vor, die Fenster vermauert, die Fassaden über und über mit Graffiti bemalt. Die Stadt hatte das zwei Hektar große Areal zwischen Bahnhof Sternschanze und der Lagerstraße jahrzehntelang verkommen lassen und die Flächen als billige Lager und Veranstaltungsräume vermietet. Wie Pläne von 1914 zeigen, standen ursprünglich drei Hallen auf dem Gebiet. Eine musste nach dem Ende des Viehhandels in den 70er-Jahren einer LKW-Waschanlage weichen; die beiden verbliebenen wuchsen im Laufe der Zeit durch permanente Um- und Zwischenbauten zu einem einzigen, 11.000 Quadratmeter großen Riesenkomplex zusammen. Doch selbst in abrissreifem Zustand bot sich noch ein starkes Stück Architektur, das auf Anhieb Gullottas Ehrgeiz weckte. Spontan bot er Frank Seitz an, auf eigene Faust ein Nutzungskonzept zu entwickeln.

Keine leichte Aufgabe, die Existenz der Hallen stand auf dem Spiel: Nachdem der Fleischgroßmarkt das Gebiet 2005 von der Stadt gepachtet hatte, verfolgte Seitz zunächst den Plan, die insgesamt 180 Meter langen, 60 Meter tiefen und sieben Meter hohen Hallen in einen überdachten Wochenmarkt zu verwandeln. Das rechnete sich jedoch nicht. „Und danach“, so der Geschäftsführer, „hatte ich, ehrlich gesagt, keine Einfälle mehr“.

Die hatte dafür Gullotta. In enger Absprache mit dem Denkmalschutzamt entwickelte er den Plan, die beiden Hallen wieder zu trennen, alle Um- und Anbauten zu entfernen und ihnen somit ihr ursprüngliches Gesicht zurückzugeben. Tim Mälzer, ein Bekannter, den er in seiner Zeit bei Gerkan, Marg und Partner kennengelernt hatte, war von Anfang an in das Projekt involviert. Für den „Küchenbullen“, wie sich Mälzer vermarktete, passten die alten Viehhallen wie die Faust aufs Auge. Begeistert sicherte er sich umgehend den 1.000 Quadratmeter großen Kopfbau für sein neues Imperium: Zwei Restaurants, plus Büroräume und angegliedertes Filmstudio. Mälzer als Magnet der neuen Schanzen-Höfe - mit diesem Pfund konnte Gullotta bei den Gesellschaftern des Fleischgroßmarktes wuchern, vor allem aber bestach seine Lösung für die bislang unbespielbare Hallentiefe von 60 Metern: Innenhöfe. Zwei großzügige Atrien, die ein helles, luftiges Ambiente für die umliegenden, nunmehr noch 18 Meter tiefen Mietflächen schaffen.

Im ersten Bauabschnitt (November 2009 fertiggestellt) wurde die 5.000 Quadratmeter große Nordhalle mit ihrem markanten Kopfbau bis auf die Grundmauern entkernt und technisch auf den neuesten Stand gebracht. Alle Räume verfügen jetzt über Fußbodenheizung, an den Restaurant-Außenwänden sind zusätzlich Heizkörper installiert.

Besonders sorgsam wurde das äußere Erscheinungsbild wiederhergestellt. Man muss schon sehr genau hinsehen, um ausgebesserte Schadstellen und nachgebrannte Ziegel auszumachen: Jede Gaube, jeder Sims, jedes Holzfenster wurde originalgetreu rekonstruiert. Allein der 1.500 Quadratmeter große Innenhof lässt erahnen, wie aufwendig und kostspielig die Instandsetzung tatsächlich war: Er machte eine neue Fassade notwendig, die Gullotta aus Klinkerwänden und vier Meter hohen Fensterfronten anlegte. Eine Kombination, die sich dezent der historischen Industriearchitektur anpasst, gleichzeitig aber modern und einladend wirkt. Vor allem aber sorgt sie für fantastische Lichtverhältnisse. Von innen bestehen die Fensterrahmen aus einer Holz-Pfosten-Riegel-Konstruktion (60 mm breit, 160 mm tief), lackiert sind sie allerdings in dem gleichen Anthrazitgrau wie die äußeren Aluminiumrahmen, so dass die komplette Fassade stählern wirkt. Der Farbton korrespondiert bewusst mit den stehen gelassenen Säulen und Stahlträgern im Innenhof, die noch auf die ursprüngliche Überdachung der mittleren Hallenfelder verweisen. Aufmerksame Beobachter können anhand der Farbgebung die baulichen Veränderungen ablesen: Grau sind alle neuen Elemente, ochsenblutrot die rekonstruierten Fensterrahmen.

Gewöhnungsbedürftig ist nur die Unterseite des Daches, die bereits in den Durchgängen zum Innenhof ins Auge fällt: Eine Dämmkonstruktion aus unbehandelten OSB-Platten anstelle des ehemals ungedämmten Sheddachs (einer holzverschalten Pfettenkonstruktion). Die Sperrholzplatten sind fraglos ein Zugeständnis an das bereits ausgeschöpfte Budget, aber letztlich auch „ein ehrliches Material“ (Gullotta), das die Brüche zwischen Alt und Neu sichtbar macht und in spannungsgeladenem Kontrast zum historischen Stahlfachwerk und den gusseisernen Jugendstil-Säulen steht. Die zahlreichen Oberlichter an den Steilseiten des Sheddachs wurden früher per Hand bedient. Nun lassen sie sich bequem per Knopfdruck steuern.

Am stärksten jedoch beeindruckt der Innenhof selbst: Gepflastert mit dem historischen Kopfstein, das sich noch unter dem schäbigen Industrieboden fand und bepflanzt mit fünf seltenen, ungewöhnlich bizarren Weißbuchen, ist er nicht nur für Frank Seitz „Gullottas größter Coup“. Diese Oase inmitten der City verleiht dem neuen Quartier seine einzigartige Atmosphäre und die enorme Attraktivität für die insgesamt neun Mieter des ersten Schanzen-Hofes. Neben Tim Mälzer haben sich bereits eine Kaffeerösterei, ein Fotostudio und eine Werkstattgalerie angesiedelt. Die zweite Halle wird derzeit saniert und für die Ratsherren-Brauerei hergerichtet. Im Mai 2012 soll sie fertig sein. Hervorzuheben ist noch das ausgebaute Dachgeschoss im Südflügel der Nordhalle. Hier logiert jetzt die Medien-Produktionsgesellschaft TeraVolt, für die das Büro Gullotta den gesamten Innenausbau entwarf: Ein elegantes, streng kubisches Mobiliar aus Roseneiche und weißen Flächen, das sich ausnehmend gut in den lichtdurchfluteten Raum mit seinem geweißten Dachwerk einfügt.

Darunter eröffnet Ende des Jahres auf 700 Quadratmetern Hamburgs erster Musik-Kindergarten. Auch die musikverwöhnten Gäste der „Bullerei“ werden dann das Vergnügen haben, das eine oder andere Ständchen zu hören: Sobald die Sonne scheint, öffnet das Restaurant die große Glasschiebetür, die das „Kaminzimmer“ vom Innenhof trennt und bedient auch draußen.

Der offizielle Eingang der „Bullerei“ befindet sich jedoch genau auf der gegenüberliegenden Seite – und führt zuerst durchs „Déli“. Das 140 Quadratmeter große Bistro in der ehemaligen Waschhalle erweckt heute Erinnerungen an alte Wohngemeinschafts-Küchen und Sperrmüllaktionen: Abgestoßene beigegraue Kacheln an den Wänden, die Lücken Ton in Ton verputzt. Viele kleine Tische, übersät mit Spuren von Farbschichten. Zusammengewürfelte Stühle aus Behörden, Kantinen und Schulen. An der Seite ein rustikaler Tresen aus Eichenholz und weißen Fronten, der von ausladenden graublauen Fabriklampen beleuchtet wird und unter der Decke baumelt ein dickes Aluminiumrohr zur Be- und Entlüftung. Improvisiert? Von wegen! Der „Shabby Chic“ ist Teil des von Mälzers Gastronomie-Konzept und wurde von Giorgio Gullotta in Zusammenarbeit mit Mälzers „Haus- und Hofdesignerin“ Kathrin Bade aus Berlin entwickelt. Ein Gemeinschaftsprojekte ist auch die Innenarchitektur im angrenzenden Hauptrestaurant: Durch einen schmalen Gang, vorbei am Schaufenster eines Kühlhauses voller baumelnder Schweinehälften, gelangt man in den imposanten, 380 Quadratmeter großen Raum, mit einsehbarer Küche als Herzstück und dem besagten Kaminzimmer als Lounge. Charme und Flair erzeugen auch hier die vielen kleinen und großen Reminiszenzen an die ursprüngliche Bestimmung des Ortes. Jeder Einbau, jede Möbel steckt voller Geschichten und Geschichte: Angefangen bei den Tischen aus den Dachbalken einer alten Räucherkate und den wilden Graffitis an den Rückwänden der geometrisch platzierten Sitzgruppen, bis hin zu den Stalltüren mit Herzchen der „Pullerei“ und den Betontrögen anstelle der Waschtische.

Und längst nicht immer ist offensichtlich, was nun eigentlich alter Bestand ist und was neu. Selbst Fachleute lassen sich täuschen: Kaum waren die Bodenplatten aus getrommeltem Belgischem Blaustein in der „Bullerei“ verlegt, lobte ein Architekten-Kollege: „Schön, dass ihr den alten Boden erhalten konntet“. Für Giorgio Gullotta war es das größte Kompliment. Genau das hatte er beabsichtigt: Die alte Industriearchitektur so behutsam zu restaurieren, dass man die Eingriffe gar nicht wahrnimmt.

Hamburg Architektur Sommer 2012


Dieser Beitrag erscheint in Hinblick auf die Medienpartnerschaft zwischen Kultur-Port.De und dem Hamburg Architektur Sommer 2012 (Mai bis August). Lesen Sie hierzu auch:
SEHW Architekten: Bürohaus an der Großen Elbstraße
und
Studio Andreas Heller: Albert-Schweitzer-Schule in Klein Borstel


Technische Daten
1. Bauaufgabe: Schanzen-Höfe: Umbau und Revitalisierung der historischen Viehversandhallen am Hamburger Fleischgroßmarkt
2. Architekten: Giorgio Gullotta Architekten
3. Mitarbeiter: Maximilian Graf, Anne-Kathrin Rose, Heike Bründer, Jennifer Schröder, Anna Fink
4. Garten- und Landschaftsarchitekten: Wiggenhorn & van den Hövel Landschaftsarchitekten BDLA
5. Bauleitung Giorgio Gullotta Architekten
6. Fachingenieure: Pinck Ingenieure Consulting, Ing.-Büro Dr.-Ing. Baseler - Ingenieurbüro für Bauwesen
7. Bauherr: Fleischgroßmarkt Hamburg GmbH
8. Konstruktion und Material:
- Dach: Sheddach aus wärmegedämmten Sandwichelementen in Holzbauweise mit Oberlichtern in Holz-Pfosten-Riegel-Konstruktion
- Fassaden: Holz-Pfosten-Riegel-Konstruktion mit Aludeckkappen, Petersen Tegl Klinker Typ D 33 im Hamburger Format
- Bodenbeläge: Blaustein getrommelt, Industrieestrich, Epoxydharzbeschichtung
9. Größe: NF EG: 3.570 qm / NF OG 506 qm
10 Kosten pro qm: 1.000 € netto (exkl. Mieterausbau und TGA). Gesamtbaukosten: 5 Mio. (exkl. Außenanlagen)
11. Standort: Lagerstrasse 32 - 34, Hamburg
12. Fotograf des Objekts, gleichzeitig Fotonachweis (Name, Tel., Adresse)
Jochen Stüber Objektfotographie
Bahrenfelder Str. 91-93, 22765 Hamburg, Tel. (040) 3980 5252


Fotonachweis und Pläne:
01-07: Schanzen-Höfe
08-10: Bullerei
11-12: Elbgold
13: TeraVolt
14: Q Tom

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