Kultur, Geschichte & Management

Abraham Moritz Warburg, genannt Aby Warburg, wird am 13. Juni 1866 als ältestes Kind von Moritz M. Warburg und seiner Ehefrau Charlotte geb. Oppenheim, geboren. Sechs weitere Geschwister, vier Brüder und zwei Schwestern, sollen folgen. Moritz M. Warburg leitet zusammen mit seinem Bruder Siegmund das familieneigene Bankhaus M. M. Warburg & Co. mit Sitz in der Ferdinandstraße, nahe der Binnenalster. Beide Warburg-Familien gehören finanziell zur Oberschicht und pflegen als wohlhabende Hamburger Juden einen großbürgerlich-hanseatischen Lebensstil. Siegmund, verheiratet mit der aus Kiew stammenden Théophilie Rosenberg, baut am Alsterufer 18 ein prachtvolles Palais; Moritz dagegen residiert mit seiner Familie in einer Villa am Mittelweg 17, Ecke Johnsallee. Private Rivalitäten zwischen den Brüdern, insbesondere unter den Ehefrauen, führen zur Spaltung der Familien. Im Laufe der Jahre werden beide Zweige nach ihrem Wohnort benannt: die „Alsterufer-Warburgs“ und die „Mittelweg-Warburgs“.

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Die „Mittelweg-Warburg“-Familie, in die Aby hineingeboren wird, ist in der jüdischen Tradition verwurzelt: Die Kinder lernen hebräisch, das Essen ist koscher, die jüdischen Feiertage und religiösen Gesetze werden eingehalten. Mit sechs Jahren erkrankt der Junge an Typhus, bleibt nach der Erkrankung von physisch und psychisch labiler Gesundheit. Er gilt als schwierig, cholerisch und sprunghaft, neigt zu Depressionen und rebelliert gegen die Familienrituale. Seine Leidenschaft gehört den Büchern. Als Ältester ist er als Erbe des Bankhauses vorgesehen. Der Familienlegende nach, soll der 13-jährige sein Erbrecht an seinen jüngeren Bruder Max abgetreten haben, gegen die Zusicherung, dass dieser ihm zeitlebens alle Bücher kaufe, die er sich wünsche. Max willigt ein und finanziert bis zum Tod des Bruders dessen Bücherleidenschaft. „Dieser Vertrag war wohl der leichtsinnigste meines Lebens; freilich habe ich ihn nie bereut!", sagt Max später.

Nach Beendigung der Schule entscheidet sich der Zwanzigjährige für ein Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Archäologie. Zum Entsetzen seiner Familie, die lieber eine Karriere als Rabbiner, Mediziner oder Jurist gesehen hätte. Zunächst studiert Aby an der Universität in Bonn, München und Straßburg folgen, wo er sein Studium mit der Dissertation über Botticellis berühmte Gemälde „Die Geburt der Venus" und „Frühling" – „Eine Untersuchung über die Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frührenaissance" abschließt. Er genießt mit seinen Kommilitonen das freie Studentenleben und entfernt sich immer mehr vom Judentum der Familie. Nach dem Studium ruft allerdings die militärische Pflicht. Dr. Aby Warburg wird als Kanonier zum Militärdienst in das 1. Badische Feldartillerieregiment Nr. 14 in Karlsruhe eingezogen. Jetzt heißt es schießen, exerzieren, reiten, Pferde striegeln, Stall ausmisten.

Was tun nach erfolgreicher Dissertation und einjährigem Militärdienst?
Im September 1895 reist er zur Hochzeit seines Bruders Paul mit Nina Loeb, Tochter des aus Worms stammenden Salomon Loeb und Teilhaber der Firma Kühn, Loeb & Co, nach New York. Die Reise geht weiter zu den Pueblo-Indianern in Arizona und den Hopi-Indianern in New Mexico, wo er die Kulte und Stammesrituale der Hopi studiert, insbesondere die der Schlange als Symbol des indianischen Wetterzaubers. Seine Reiseerinnerungen werden erst postum, ein Vierteljahrhundert später publiziert. Unter dem Titel "Schlangenritual" analysiert Warburg die Symbolik des Indianerrituals und vergleicht sie mit antiken Kunstwerken, wie der Laokoon-Gruppe, und den Schlangen-Mythen der Antike.
In den Jahren 1897 bis 1904 lebt Aby in Florenz. Entgegen der Heiratspolitik seiner Familie, ehelicht er eine Protestantin: die Malerin und Bildhauerin Mary Hertz, Tochter des Hamburger Kaufmanns und Senators Adolph Ferdinand Hertz. Wie sehr sich Aby Warburg vom jüdischen Glauben entfernt hat und inzwischen jede Religion als Aberglauben betrachtet, zeigt die Tatsache, dass die drei Kinder des Paares nicht getauft werden. Hinzu kommt seine Weigerung, als Erstgeborener am Grab des Vaters das Totengebet – Kaddisch – zu sprechen.

In Florenz widmet sich der Hamburger der kunsthistorischen Forschung, das heißt, dem Einfluss der Antike auf die abendländische Kultur. Er sucht in antiken Vorbildern nach Symbolen und Attributen, nach Allegorien und Mythen, analysiert Posen, Haar- und Faltenmotive und vergleicht sie mit dem Bilderkanon, den Bildinhalten, der Renaissancekünstler. Seine Methodik soll als neue Disziplin in die Kunstgeschichte eingehen: die Ikonologie. Erwin Panofsky, Kunsthistoriker und Ordinarius am Kunsthistorischen Seminar der Hamburger Universität, entwickelt in den 1930er-Jahren mit der Ikonographie – der Untersuchung der Bildinhalte in ihrem historischen Kontext – Warburgs Kunsttheorie weiter.
Warburgs weitere Florentiner Forschungen befassen sich unter anderem mit den privaten und wirtschaftlichen Lebensbedingungen der Renaissancekünstler - Botticelli, Leonardo da Vinci - und ihren Auftraggeber sowie dem Merkantilismus im Florenz des Quattrocento. Kurzum: Aby Warburg liebt Florenz, er liebt die Kunst und Kultur der Stadt am Arno, das gesellschaftliche Leben mit seinen Freunden, darunter der Bildhauer Adolf von Hildebrand und der amerikanische Kunsthistoriker und Sammler Bernard Berenson. Inzwischen beherrscht er die Sprache, wird wegen seiner dunklen Haut und seiner Haare nicht als Jude sondern als Italiener gesehen.

Trotz seiner Verbundenheit mit der toskanischen Stadt kehrt Aby Warburg mit seiner Frau und der in Florenz geborenen Tochter Marietta im Jahr 1904 nach Hamburg zurück. Im Gepäck seine Forschungsergebnisse und rund 4.000 Bücher. Einer der Gründe für die Rückkehr ist die Planung einer eigenen Bibliothek in Hamburg, ein anderer ist die emotionale Bindung an seine Geburtsstadt. Zudem hat sich das politische und kulturelle Klima seit der Gründung des Kaiserreiches 1871 gegenüber den hanseatischen Juden geändert – seit 1871 besitzen Juden im Deutschen Reich das volle Bürgerrecht. Der gewonnene Deutsch-Französische-Krieg, Frankreichs Kriegsreparationen von fünf Milliarden Franc in Gold machen die Hansestadt innerhalb kürzester Zeit zur Boomtown: Industrie, Wirtschaft und Handel, Forschung, Technik und Kultur prosperieren. Zu den überaus erfolgreichen Juden gehören Albert Ballin, Gründer der HAPAG (Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft), damals die größte Reederei der Welt, und der Bankier Max Warburg. Als „Kaiserjuden" angefeindet, sind sie enge Vertraute von Kaiser Wilhelms II., wobei Ballin für die Flottenpolitik des Kaisers und Warburg als Finanzier der kaiserlichen Expansionspläne nützlich sind. Das Bankhaus M. M. Warburg & Co. entwickelt sich im Wilhelminischen Kaiserreich zur größten Privatbank in Deutschland. 1906 erfolgt in der Ferdinandstraße 75 ein repräsentativer Neubau im Stil der Neorenaissance nach den Plänen des Hamburger Architekten Martin Haller. Neben den wirtschaftlichen Erfolgen genießt Max Warburg als Mäzen immer mehr gesellschaftliche Reputation. Er ist Mitbegründer der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung, der Hamburgischen Gesellschaft für Wohltätigkeit (HGfW). Er finanziert das Israelitische Krankenhaus sowie die Talmud Tora Schule im Grindelviertel und die 1906 fertig gestellte Synagoge am Grindelhof. Aby dagegen erwirbt in kunsthistorischen Kreisen internationale Anerkennung. Beide Brüder setzen sich für die Gründung einer Hamburger Universität ein, deren Pläne aber erst nach Kriegsende 1919 realisiert werden.

Bedingt durch die Niederlage des Ersten Weltkrieges, den aufkommenden Antisemitismus und diffuse Zukunftsängste erleidet Aby Warburg einen psychischen Zusammenbruch mit paranoiden Schüben. Über fünf Jahre verbringt er in Sanatorien, darunter in einer Heilanstalt in Kreuzlingen am Bodensee, im Schweizer Kanton Thurgau. Erst nach einem Vortrag in der Klinik über das Schlangenritual der Hopi-Indianer, wird er 1924 als geheilt entlassen. Fünf Jahre sollen ihm noch für sein Lebenswerk bleiben.

Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg
Aby Warburgs Lebenswerk - bei aller Anerkennung als Wissenschaftler und Kunsthistoriker - ist die Kulturwissenschaftliche Bibliothek. Abys Wunsch nach einer eigenen Bibliothek kommt sein Bruder Max nur widerstrebend nach und bewilligt erst Mitte der 1920er-Jahre den Bibliothek-Bau. Dieser wird neben dem Wohnhaus der Familie in der Heilwigstraße 114 auf dem freien Nachbargrundstück nach den Plänen der Hamburger Architekten Gerhard Langmaack und Fritz Schumacher errichtet. Ein Neubau in der Tradition hanseatischer Backstein-Architektur: Ein zur Straße liegender dreigeschossiger Bürotrakt, gartenseitig ein Archiv über vier Etagen. Im Garten befindet sich ein Gebäude, dessen elliptischer Raum als Auditorium und Studienraum nutzbar ist, von Warburg als "Arena der Wissenschaften" bezeichnet. Das Haus verfügt über modernste Technik, Telefonanlage, Bücheraufzug, Rohrpostanlage und Tresor.
Die Inschrift in griechischen Buchstaben „ΜΝΗΜΟΣΥΝΗ“ über der Eingangstür der Bibliothek erinnert an Mnemosyne, die griechische Göttin der Erinnerung und Mutter der neun Musen. Sie erinnert aber auch an den unvollendeten Mnemosyne-Atlas „Mnemosyne, Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance". Eine auf Tafeln, motivisch geordnete Sammlung aus Bildern, Fotos aus Büchern und Zeitungen, die heute nur noch als fotografisches Bildmaterial erhalten ist. Bereits während der psychischen Erkrankung des Wissenschaftlers hat der österreichische Kunsthistoriker Fritz Saxl die kommissarische Leitung der Bibliothek übernommen, die er auch nach Aby Warburgs Tod im Oktober 1929 und bis zum Jahr 1933 weiterführen soll.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wird die Bibliothek als jüdische Einrichtung geschlossen. Rund 60.000 Bücher, 25.000 Fotografien und das Mobiliar werden auf Frachtern der HAPAG nach London in Sicherheit gebracht, deklariert als Frachtgut. Verwaltet wird Warburgs Sammlung heute vom Warburg-Institute of London, das seit 1944 der University of London angegliedert ist. Die ehemalige Warburg-Bibliothek in der Heilwigstraße 116 wird nach fünfzig Jahren kommerzieller Nutzung 1993 von der Freien und Hansestadt Hamburg erworben und eine neue Bibliothek gegründet: das Warburg-Haus. Das Haus, heute als Institution für kunst- und kulturhistorische Forschung der Hamburger Universität genutzt, wird von der Aby-Warburg-Stiftung unterhalten, welche mit Seminaren, Vorträgen, Stipendien und einer Warburg-Professur an die Traditionen ihres Bibliotheksgründers anknüpft.

Unter dem Motto „Warburg lebt!" feiert das Warburg-Haus am 13. Juni 2016 den Geburtstag Aby Warburgs mit einem Tag der offenen Tür. Von 11.00 bis 17.00 Uhr gibt es jeweils zur vollen Stunde Führungen mit anschließendem Kurzvortrag: Warburg, Cassirer und die Freiheit der Wissenschaft, Birgit Recki, Hamburg; Aby und Max. Über Hamburgs geistige Zahlungsfähigkeit, Karen Michels, Hamburg; Zur Aktualität Warburgschen Denkens, Peter Krieger, Mexiko.
Um 19 Uhr folgt der Festvortrag "Der Gelehrte und die Künstlerin. Aby Warburg und Mary Hertz." Ein Vortrag von Michael Diers mit Gästen: Steffen Haug, Bärbel Hedinger, Andrea Völker und Jutta Braden.

Vom 28. Juni bis 22. November 2016 veranstaltet das Warburg-Haus eine Vortragsreihe zum 150. Geburtstag des Hamburger Kunst- und Kulturhistorikers. Programm unter www.warburg-haus.de
Ort der Veranstaltungen: Warburg-Haus, Heilwigstraße 116, 20249 Hamburg.


Abbildungsnachweis:
Header: Aby Warburg und ein Pueblo-Indianer, 1895. © Warburg Institute, London
Galerie:
01. Programm zu „Warburg lebt“ (Vortragsreihe)
02. Mary und Aby Warburg, 1897. © Warburg Institute, London
03. Aby Warburg (2.v.l.), mit dem Ehepaar Brockhaus und Mary Warburg (stehend), 1898. © Warburg Institute, London
04. Aby Warburg, 1912. © Warburg Institute, London
05. Arbeits-Panel. © Warburg Institute, London
06. Warburg-Haus, Fassade, 1926. UHH, RRZ MCC, Foto: Mentz
07. Eingang zum Warburg-Haus, Mnemosyne. UHH RRZ MCC, Foto: Mentz
08. und 09. Lesesaal im Aby Warburg-Haus. Fotos: Thies Ibold
10. Büste von Aby Warburg, 1930. UHH, RRZ MCC, Foto: Mentz