Film

Nach der Haft änderte Ray seinen Namen, begann als Peter ein neues Leben, ist heute leitender Angestellter und glücklich verheiratet. Da taucht plötzlich Una an seinem Arbeitsplatz auf, fordert Antworten auf Fragen, die sie quälen, war sie die Einzige oder nur eine von vielen? Der australische Regisseur Benedict Andrews variiert virtuos den Lolita-Mythos, anders als in Vladimir Nabokovs Roman wird die Beziehung vorrangig aus der Perspektive des Mädchens (Ruby Stokes) und später der Frau gezeigt. Durch die Konfrontation in der Gegenwart, brechen die Erinnerungen wieder hervor, Fragment-artig und flüchtig. Stück für Stück offenbaren die beiden Protagonisten ihr Innerstes, stellen sich gegenseitig bloß, benutzen die Vergangenheit als Waffe gegeneinander.

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Der Film spielt mit den Erwartungen des Zuschauers: Der muss selbst versuchen zu entschlüsseln, was real ist oder nur leere Anschuldigung, wem er glauben soll oder nicht, stößt dabei unweigerlich an seine eigenen Grenzen. Wessen Erinnerungen manifestieren sich dort auf der Leinwand? Die Sympathien verschieben sich permanent genauso die moralischen Kategorien von Opfer und Täter. Es geht um Rache, Schuld, Sehnsucht, offenbleibt, wie weit das emotionale Trauma die Wahrnehmung verzerrt. Was für die Gesellschaft zu Recht eine inakzeptable Beziehung ist, empfinden Una und Ray noch heute Inbegriff verlorener Glückseligkeit. Bestürzend und schauspielerisch absolut grandios, wie die beiden sich attackieren, er eher gehässig defensiv, sie hilflos aggressiv. Nur drei Monate dauerte ihre leidenschaftliche Affäre, lang genug, um die Schwächen des Anderen zu kennen. 

„Una und Ray” basiert auf David Harrowers Broadway-Erfolg „Blackbird”, der schottische Autor schrieb auch die Drehbuchfassung. Das Theaterstück hatte seine Uraufführung in Großbritannien 2005 auf dem Edinburgher Festival. Benedict Andrews inszenierte wenig später dann den Einakter an der Berliner Schaubühne. Ob Kapstadt oder Stockholm, Mumbai oder Tokio, „Blackbird” fesselte Zuschauer wie Schauspieler gleichermaßen. 2008 glänzte Oscar-Preisträgerin Cate Blanchett als Regisseurin während der Ruhrfestspiele Recklinghausen. Im Film entwickelt sich aus den Erinnerungen der Protagonisten eine Art Paralleluniversum. Visuell ist hier auf der Leinwand nichts glatt oder gefällig, Una und Rays innere Zerrissenheit spiegelt sich in den Bildern von Kameramann Thimios Bakatatkis („Attenberg”, „The Lobster”), seine Flashbacks haben etwas leicht diffus Unwirkliches, und doch sind sie es, die zeigen, wie jene verhängnisvolle Beziehung ihren Anfang nahm.

Dem ursprünglichen Zwei-Personen-Stück wurden neue Figuren hinzugefügt, Unas Mutter, Rays Ehefrau, seine Arbeitskollegen. Die Ereignisse der Vergangenheit prägen bis heute die Menschen und das Umfeld der beiden Protagonisten. „Blackbird” kannte als Kulisse nur den klaustrophobischen Aufenthaltsraum einer Lagerhalle. Die Arena der moralischen Abrechnung zwischen den Kontrahenten ist auch jetzt Zentrum des Geschehens, kalt, erbarmungslos wie einst der Gerichtssaal, in den die Videoaufnahmen der Dreizehnjährigen (Ruby Stokes) übertragen wurden. Sie reagiert nicht auf die gestellten Fragen, will nur wissen, wo Ray ist, warum er sie allein gelassen hat, das ist für das eigentliche Unrecht, nicht aber der Altersunterschied. Liebe als Tabubruch. Una stellt noch immer die gleichen Fragen, sie lebt fünfzehn Jahre später noch immer in ihrem alten Kinderzimmer. Das idyllische Viertel wurde für sie zur Sackgasse, sie hat einen profanen Bürojob, die Nacht verbringt sie in der Disko, die hämmernde elektronische Musik verschwindet nie ganz aus dem Film. Anonymer Sex in einer Toilettenkabine, daheim wartet die Mutter auf sie, das sind die kläglichen Überreste ihres Daseins.

„Die Vergangenheit schlänget sich durch die Gegenwart wie eine vergessene Melodie”, schreibt Benedict Andrews in seinen Produktionsnotizen. „Meine Inspiration kam aus Filmen wie Alan Resnais’ „Hiroshima, mon amour” (1959), die zeigen, wie Gegenwart und Vergangenheit koexistieren können.” Ray schrickt zusammen, als Una plötzlich vor ihm steht: „Was willst Du?”, das will auch der Zuschauer wissen. Nichts in dem Gesicht von Una erinnert mehr an jenes kleine bezaubernde Mädchen, was sie einmal war. Naiv, offen, rührend, fordernd, verführerisch hingestreckt auf einer Liege im Garten, erwartungsvoll folgen ihre Augen Ray. „Du warst die Tochter meines Nachbarn, ich wollte nichts von Dir “, hält er ihr entgegen, die Bilder sagen das Gegenteil. Wütend verteidigt der frühere Geliebte sein neues Leben: „Ich hatte alles verloren. Hast Du je gedacht, was mit mir passiert ist? Ich habe den größten, dümmsten Fehler meines Lebens begangen.” Vier Jahre Gefängnis, als Pädophiler abgestempelt, das kann er ihr nicht verzeihen. Schuldzuweisungen auf beiden Seiten. Die Dreizehnjährige wurde zum Kuriosum: „Sie haben mit dem Finger auf mich gezeigt.” Der Vater hatte es nie verkraftet, starb.

Spannung und Angst sind körperlich spürbar, jede Sekunde droht eine Eskalation, und doch tritt sie nicht ein. Als Una nach ihrer Handtasche greift, entreißt Ray sie ihr panisch, kippt den Inhalt auf den Boden, kein Revolver. Er will die Vergangenheit vergessen, sie kann nicht loslassen. Es ist ein höchst unpassender Moment für diesen Clinch, der Betrieb soll umstrukturiert werden, Entlassungen stehen an, der Chef hält große Stücke auf Ray, er kann aufsteigen, Karriere machen, nur muss er jetzt Position beziehen. Abends gibt Rays Frau ein Fest, alles wirkt mondän, suggeriert Erfolg. Doch je länger die Auseinandersetzung geht, desto klarer wird, auch Ray kann die dreizehnjährige Una, in die er verliebt war, nicht vergessen. Das war nicht nur irgendein Abenteuer, er ist kein Monster, oder? Auch er erinnert noch jenen denkwürdigen letzten Abend an der windgepeitschten Küste von Kent. Ihre letzte Nacht zusammen, sie waren auf der Flucht, planten eine gemeinsame Zukunft. Die beiden Protagonisten sind beide gleichermaßen voneinander enttäuscht, fühlen sich verraten, verlassen, doch die Ironie des Schicksals: sie haben sich eigentlich nur verfehlt. So hatten sie nie wie andere Liebende, die Möglichkeit sich zu entfremden, zu scheitern, die Beziehung zu beenden.

Una hat durch Zufall Rays Foto in einer Zeitschrift entdeckt. Sie will ihre Vergangenheit zurückerobern, Wut, Intrigen, Provokation, ihr ist alles Recht, wenn sie nur die Leere um sich herum durchbrechen kann. Absolut grandios: Rooney Mara. Die Schauspielerin hat schon zuvor Rollen gespielt von Frauen, die eine ungeheure Einsamkeit umgibt, sie wird Teil ihrer Persönlichkeit wie bei der brillanten Hackerin Lisbeth Salander in „The Girl with the Dragon Tattoo”, nur geht die mit Gewalt anders um, weiß sich zu wehren. Erniedrigung, Missbrauch, es scheint, als wenn Lisbeth genau daraus ihre unglaubliche Kraft bezieht. In „Carol” ist Rooney Mara die unscheinbare scheue Therese, die sich in eine Frau der Oberschicht verliebt, alles aufgibt, alles riskiert und fast sich selbst verloren hätte. Ein Mädchen wie von einem anderen Planeten, so hatte die Freundin sie beim ersten Treffen genannt. Damals blickte sie nur verschämt auf ihren Teller hinunter und nahm es als Kompliment hin. Wenn Therese nicht die Weihnachtsmann-Mütze trug, stülpte sie sich eine vielfarbig karierte riesige Baskenmütze über, unter der sie wie einer Tarnkappe verschwand. Sie schien sich immer zu verstecken, in einer Ecke, vor einer Wand oder auf dem Fußboden, als bräuchte sie etwas, das ihr Rückhalt gibt. Una ist die schwierigste Rolle, jener Mix aus Attraktivität und Verbitterung, die Enttäuschung hat sie aushöhlt, sie ist kein Racheengel, und will doch das Objekt ihrer Begierde zerstören. Ihre großen Augen brennen vor Verzweiflung und Sehnsucht. Sie hat keinerlei Selbstbewusstsein nur eine Obsession: Ray.

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Originaltitel: Una   
Regie: Benedict Andrews  
Darsteller: Rooney Mara, Ben Mendelsohn, Ruby Stokes, Riz Ahmed 
Produktionsland: Großbritannien, USA, Kanada, 2016 
Länge: 94 Minuten 
Kinostart: 30. März 2017
Verleih: Weltkino Filmverleih

Fotos & Trailer: Copyright Weltkino Filmverleih