Film

Chile, 1948. Präsident González Videla konnte bei seiner Wahl keine absolute Mehrheit erringen, musste deshalb den Gegnern Zugeständnisse machen, doch nun zwei Jahre später während des Kalten Krieges, bezieht er Position für die Vereinigten Staaten von Amerika. In einer flammenden Rede vor dem Kongress bezichtigt Senator Pablo Neruda (Luis Gnecco) ihn des Verrats. Die Regierung hatte die Maßnahmen im Kampf gegen streikende Arbeiter und Andersdenkende verschärft. Sondergesetze erlassen, Gewerkschaftsführer und Kommunisten verhaftet. An diesem Abend findet ein Maskenball im Hause des Künstlers statt, illustre Gäste, übermütiges Lachen, die Musik dringt nach draußen, der Champagner fließt in Strömen. Noch trotzt Neruda dem Druck von rechts. Die Genossen warnen ihn, seine Immunität ist aufgehoben worden, er muss untertauchen, aber schreibt mit ungebrochener Energie und Wut weiter an seinem epochalen Werk, dem Gedichtzyklus “Canto General”. 

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„Ich eine Nebenfigur?”, die Stimme aus dem Off fühlt sich zu Höherem berufen. Kriminalkommissar Óscar Peluchonneu (Gael García Bernal) hat den Befehl erhalten, er soll Neruda, die Ikone der internationalen Linken, diskreditieren und festnehmen. Für ihn, den Bastard einer Prostituierten und eines späteren Polizeichefs, die einzige Möglichkeit, Unsterblichkeit zu erlangen: „Ich möchte Zeuge Deines Todes sein, dann wäre ich die Hauptfigur”. Immer hat man ihn als Trottel behandelt, nun will er endlich seinen Mut unter Beweis stellen. Der melancholische Einzelgänger und überzeugte Faschist ist hoffnungslos überfordert, verheddert sich zwischen Taktik und Ambition, outet sich ganz gegen seinen Willen als tragisch lächerliche Gestalt. Ihn quälen Neid wie Niederlagen, nichtsdestotrotz verfällt er der Faszination von Nerudas Poesie, wie sollte es auch anders sein. Zwischen Jäger und Gejagtem entsteht bald schon eine symbiotische Beziehung. Der Dichter genießt es, falsche Fährten zu legen, den Widersacher in die Irre zu führen, selbst der Zuschauer tappt in die Falle.

„Neruda” wird zu einem schwindelerregenden Vexierspiel zwischen Fiktion und Fakten, von betörendem Charme und wundervoll unterhaltsam, das Gegenstück zu Larraíns Film “Jackie”. Die Protagonistin dort will nichts preisgeben von ihrem Innenleben, Jacqueline Kennedy verweigert sich, bleibt bis zuletzt ein Geheimnis, weil sie es so will. Dichter wie auch Kommissar aber lechzen danach, uns an ihren turbulenten Gefühlen und Gedanken teilhaben zu lassen, es ist quasi ihre Berufung. Neruda als Poet und Peluchonneu in seiner Funktion als Erzähler. Luis Gnecco ähnelt dem Dichter äußerlich auf frappierende Weise. Grandios wie er mit Inbrunst den Salonkommunisten und genialen Künstler verkörpert: Ein Bonvivant, ein egoistischer Snob, dessen Hedonismus etwas burlesk Spielerisches hat, er ist mehr Genussmensch als Lüstling, doch es scheint nur eine Rolle von vielen. Er kann Menschen mit Worten verzaubern oder provozieren, das eitle Selbstgefällige kann von einer Sekunde zur Anderen verschwinden, und plötzlich ist da wieder nur Demut vor dem Leiden seiner Landsleute.

„Anti-Biopic” nennen Regisseur Pablo Larraín und Drehbuchautor Guillermo Calderón ihren Film, wählen den Weg der literarischen Legende, um sich dem Kosmos Nerudas anzunähern. Sein Werk ist so komplex, vielschichtig, darin liegt eine Herausforderung, aber auch die Freiheit. Bewusst haben beide sich weniger auf die Liebesgedichte konzentriert, sondern vor allem auf jene Verse, die Wut, Zorn und Verzweiflung in sich tragen, wo Politik und Ideologie sich mit Poesie verbinden, der Sehnsucht endlich ernst genommen zu werden. Neruda gab den Armen und Unterdrückten eine Stimme, rüttelte sie auf aus der Lethargie. Ihre Loyalität ihm gegenüber ist bedingungslos, sie schleusen ihn und seine Frau Delia de Carril (Mercedes Morán) von Quartier zu Quartier, ertragen seinen Hochmut, auch wenn ein Genosse Neruda beschwört, doch ein wenig bescheidener zu sein. Der Dichter denkt nicht daran. Dieser Verfolgungsjagd fehlt der Schrecken, das ist seine Überzeugung. Er zelebriert die Flucht als Abenteuer und Teil seines Heldenmythos. Nichts kann ihn abhalten von einem Besuch im Bordell, der Gegner ist ihm dicht auf den Fersen. Eine füllige Dragqueen erklärt später geduldig Peluchonneu, warum die Gedichte Nerudas sie verändert haben, zum ersten Mal Passion verspüren lassen, ein Gefühl von Selbstwert.

Die Chronik jener Flucht wechselt zwischen kalten harten und weichen warmen Farben, ärmlicher Tristesse und schwelgerischer Dekadenz, zwischen Farce und Spätwestern, Enge und Weite. Sergio Armstrongs Kamera gleitet durch Räume und Landschaften in langen wundervoll choreographierten Schwenks. Dann plötzlich aber hält sie inne, dreht sich um sich selbst, wie um Wirklichkeit und Fantasie. Das groteske Thriller-Hybrid erinnert zuweilen an Fellini oder Pirandello, hat etwas opulent Opernhaftes, Barockes, ob auf Festen, im Bordell, dem Pissoir des Parlamentes, am Meer oder den verschneiten Berghängen der chilenischen Kordilleren. Larraín kreiert magische skurrile Bilder für die Macht der Sprache, das Leidenschaftliche, Bockige, Störrische seines Protagonisten, einer der frei sein wollte von gesellschaftlichen Zwängen, dessen Hunger unersättlich ist, ob nach Anerkennung, Frauen, Vergnügen, Gefahren oder Kunst.  Er braucht die Liebe wie den Widersacher, vielleicht Feinde noch mehr als Freunde. Irgendwann verlässt Neruda seine Frau, er gibt vor, einen Ozeandampfer zu nehmen und reitet wenig später durch hohen Schnee, immer in der Sicherheit, dass sein Verfolger bald auftauchen wird. Peluchonneu, der Archetyp des Nachkriegskonservativen, ist eine Fiktion, wessen verrät Larraín erst beim finalen Showdown in den Anden. „Ich war aus Papier, nun bin ich aus Fleisch und Blut”. Wir haben lange gebraucht um zu begreifen, dass der Kommissar vielleicht nur ein Produkt der Imagination des Dichters ist. Alles was Neruda berührt, verwandelt sich in Literatur.

Die argentinische Malerin und Aristokratin Delia de Carril leidet unter der Enge und der Armut im Untergrund. Ergeben tippt sie seine Gedichte ab. Ihre eigene künstlerische Tätigkeit kommt zu kurz. Delia und der deutlich jüngere Neruda hatten sich 1934 in Madrid kennengelernt und verliebt, erzählt Mercedes Morán in einem Interview. Die Malerin trug von Anfang an wesentlich zu seiner Berühmtheit bei. Delia war es, die ihn mit den Ideen des Kommunismus in Berührung brachte, ihn mit den entscheidenden Leuten bekannt machte. Sie ließ der kommunistischen Partei große Spenden zukommen, finanzierte Nerudas Leben, die Reisen, seine Extravaganzen, gab ihm den Freiraum, den er brauchte. Delia war eine Frau, die von allen sehr geschätzt wurde, so die Schauspielerin. Am Ende ihres Lebens war sie verarmt, nur dank der Unterstützung von Freunden konnte sie einigermaßen zurechtkommen. Doch davon handelt das selbstreflexive Roadmovie nicht. „Wir wollten eine Welt erfinden, so wie sich Neruda die seine erfunden hat,” erklärt Larraín. „Unser Film ist wahrscheinlich weniger ein Film über Neruda als einer in seinem Geist.” 

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Originaltitel: Neruda
Regie: Pablo Larraín  
Darsteller: Luis Gnecco, Gael García Bernal, Mercedes Morán 
Produktionsland: Chile, Argentinien, Frankreich, Spanien, USA, 2016 
Länge: 108 Minuten 
Kinostart:  23. Februar 2017  
Verleih: Piffl

Fotos & Trailer: Copyright Piffl Medien