Meinung
Musik im Mittelalter: Macht der Kirchen und Not der Ketzer, Hildegard von Bingen

„In meinem achten Jahr aber wurde ich zu geistlichem Leben Gott dargebracht und bis zu meinem fünfzehnten Jahr war ich jemand, der vieles sah und mehr noch einfältig aussprach, so daß auch die, welche diese Dinge hörten, verwundert fragten, woher sie kämen und von wem sie stammten“, heißt es in der Autobiografie der Hildegard von Bingen (1098-1179).

Die Zeit zwischen Eintausend und Mitte des 15. Jahrhunderts ist als die Geburt und Wiege der musikalischen Formen zu betrachten, die wir heute noch kennen und die Musik bis in unsere Zeit bestimmt. Der KlassikKompass bei KulturPort.de unternimmt in einer Serie in losen Folgen eine Reise in die Musik des Mittelalters. Wir setzen diese Fahrt nun fort und betrachten die Musik der Kirchen und Klöster, der Marienverehrung und der „Ketzer“.

Für viele Musikliebhaber und Kirchgänger ist die Musik der wichtigste, erhebendste und heiligste Teil der Andacht.

Viele Jahrhunderte hat die Kirche Musik hervorgebracht, die vom Lobe Gottes kündigt und die Herzen nicht nur der Gläubigen zum Himmel erhebt, denkt man nur an beständig ausverkaufte „Matthäus- und Johannes-Passionen“ von Bach in Hamburger Kirchen zur Passionszeit.
Einer der berühmtesten, lebenden Hamburger, Altkanzler Helmut Schmidt, selbst Liebhaber sakraler Töne und Hobbypianist von hohen Graden, meinte einst die Musik in der Kirche sei ihm fast wichtiger als die Kirche selbst.

Das war nicht immer so, dass die heilige Mutter Kirche die Musik als ihre beste Botschafterin akzeptierte. In den ersten Jahrhunderten der Kirchengeschichte lehnte man Musizieren im Gottesdienst sogar als „teuflisch“ ab, die heute alle Sakralmusik zentral prägende Orgel wurde als rein weltliches Tanzinstrument selbst bis ins 11. Jahrhundert hinein im Gottesdienst nicht zugelassen.

Gregor und Hildegard: Die Geburt der Kirchenmusik
“Virtutes: O antiqui sancti, quid admiramini in nobis? Verbum del clarescit in forma hominis, et ideo fulgemus cum illo, edificantes membra sui pulchri corporis.”

„Die Kräfte: Oh, Ihr althergebrachten Heiligen, warum erstaunt ihr uns? Das Wort Gottes wächst klar in menschlicher Form und wir strahlen mit ihm und bilden die Gliedmaßen eines herrlichen Körpers.“
Aus: Ordo Virtum dem „Spiel der Kräfte“ von Hildegard von Bingen.

Ende des 6. Jahrhunderts reformierte Papst Gregor der Große (540-604) die Liturgie der lateinischen Kirche. Und mit ihm hielt Musik Einzug in die Botschaft der Kirche. Denn im Rahmen dieser Reformen begann eine über mehrere hundert Jahre fortgesetzte Ordnung, Sammlung und Vereinheitlichung der in der Liturgie verwendeten Melodien und Texte. Die zusammengestellten Lieder wurden als „Gregorianischer Choral” für die römische Kirche verbindlich. Der Gregorianische Choral wurde einstimmig vorgetragen und basierte auf lateinischen Texten. Die Melodien des Gregorianischen Chorals wurden zunächst bis ins 9. Jahrhundert mündlich überliefert. Danach wurden sie in die Messbücher in Neumen und Notationen aufgenommenen, Vorformen der Notenschrift.

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Die Griechen verwendeten die 24 Buchstaben des griechischen Alphabets für die Instrumente in verkehrter Stellung. Gregor der Große verwendete die des lateinischen Alphabets und zwar, in richtiger Erkenntnis der Notwendigkeit einer Vereinfachung der antiken Notation, nur die sieben ersten zur Bezeichnung der diatonischen Tonleiter. Der einstimmige, unbegleitete, liturgische Gesang der römisch-katholischen Kirche in lateinischer Sprache stellt die bedeutendste Quelle unserer Kenntnis über den Stand der Musikentwicklung des Mittelalters dar. In den Messen wurden sowohl das Ordinarium, als auch das Proprium gesungen. Der Gregorianische Choral wurde funktionaler Bestandteil der Liturgie von Messe und Offizium (Stundengebet). Zu jedem Stundengebet gehören Psalmen mit den dazugehörigen Antiphonen, Hymnen und Cantica und die Schriftlesung mit den entsprechenden Responsorien. Gregorianik gehört heute noch zu den lateinischen Messen der katholischen Kirche und besonders die Gesänge der Mönche schafften es sogar bis hinein in moderne Hitparaden.

Eine der profiliertesten Vertreter der Gregorianik, die Papst Gregors Kunst zur hohen Blüte entwickelte, war die Äbtissin, Visionärin und Naturärztin Hildegard von Bingen (1098-1179). Sie gilt als erste Vertreterin der deutschen Mystik des Mittelalters. Ihre Werke befassen sich mit Religion, Medizin, Musik, Ethik und Kosmologie. Sie war auch Beraterin vieler bedeutender Persönlichkeiten ihrer Zeit.

Die unter dem Namen „Symphonia armonie celestium revelationum“ („Symphonie der Harmonie der himmlischen Erscheinungen“) überlieferte Sammlung geistlicher Lieder der Hildegard von Bingen enthält 77 liturgische Gesänge mit Melodien in Neumennotation. Sogenannte „Neumen“ sind Vorläufer der modernen Notenschrift die allerdings noch keine Längennotierungen aufweisen und frei interpretiert wurden.

Das berühmteste musikalische Werk Hildegards ist das in Text und musikalischer Notation vollständig bis heute erhaltene liturgische geistliche Mysterien Spiel „Ordo Virtutum“, das am reinsten die visionäre Gedanken- und Bilderwelt der Äbtissin zum Ausdruck bringt.

Es ist ein allegorischer Kampf zwischen den Tugenden und den Lastern, denen sie im „Ordo virtutum“ durch Gesänge eine musikalische Gestalt und eine Stimme gab. Solche Inszenierungen der Tugenden (lateinisch „virtutes“) haben möglicherweise im Rahmen eines liturgischen Dramas die Kirche ihrer Abtei belebt.

„Sequentia, Ensemble für Musik des Mittelalters,“ benannt nach der mittelalterlichen Musikform Sequenz, schufen namentlich der Musik Hildegard von Bingens ein neues, junges Publikum. Sequentia wurde 1977 von Barbara Thornton (1950–1998) und Benjamin Bagby mit Sitz in Köln gegründet. Bereits zu Beginn ergab sich eine bis in die heutige Zeit andauernde Zusammenarbeit mit der Redaktion Alte Musik des Westdeutschen Rundfunks (WDR), darunter Tonträgereinspielungen und Bühnenprojekte. So entstand als Ergebnis eines im Februar des Jahres 1982 vom WDR ausgerichteten Kolloquiums über die Musik der Hildegard von Bingen (1098–1179) im Mai desselben Jahres die erste seit dem Mittelalter eingerichtete Bühnenfassung ihres Mysterienspiels „Ordo virtutum“ in der romanischen Kirche Groß St. Martin zu Köln. Im selben Jahr veröffentlichte man die Aufnahme auf Tonträger.

Soeben erschien eine Box mit acht CDs mit den schönsten Aufnahmen von Sequentia unter anderem dem „Ordo virtutum“. Die Musik Hildegards wird magisch und meditativ vorgetragen. Man muss sich an die zumeist einstimmig oder oft mit einer nur eng alternierenden, dissonanten Zweitstimme gesungenen Antiphone erst gewöhnen – sie sind für moderne Ohren ungewöhnlich. Aber wenn man in diese Tonsprache eintaucht, wird man wie in einem wahren Jungbrunnen geistig erfrischt.

Leider muss angemerkt werden das diese Box zwar enorm günstig, leider aber auch sehr spärlich ausgestattet ist, sie entbehrt jeden Textbegleitheftes, das ist zu bemängeln. Trotzdem wird man so viel Hildegard für den Preis unter einer regulären CD wohl kaum in dieser Güte wieder bekommen.

Eine zweite Aufnahme widmet sich in diesem Jahr den visionären Gesängen Hildegards. Sie würde von der Frauen Vocalistinnen „Voca Me“ eingespielt, vier Sängerinnen, die bereits zur Creme der alten Musik Interpretinnen zählen, Sigrid Hausen, Sara M. Newman, Petra Noskaiova und Gerlinde Sämann – die letzten beiden ebenfalls bei der hochgelobten Neueinspielung der Bach’schen Kantaten durch Sigiswald Kuijken als Solistinnen engagiert.

Diese CD mit dem passenden Titel „Inspiration“ ist von besonderer Güte und zeigt wie man Hildegard heute neu interpretieren kann. Der künstlerische Leiter der Gruppe, Michael Popp, hat verschiedene interessante Instrumente wie die Fidel, mittelalterliche Harfe, Monochord und selbst zuweilen Schlaginstrumente wie Glocken dem Gesang beigefügt und erreicht damit eine ungeheure Dichte der Interpretation. Die Scheibe sei all denen empfohlen, die sich Hildegards Visionen vorsichtig nähern wollen und sozusagen nach einem „Schnupperkurs“ dafür suchen.

Die CD-Box „Hildegard von Bingen“ mit dem Ensemble „Sequentia“ ist zu erwerben bei „Deutsche Harmonia Mundi Records“, unter der Bestellnummer 88697902482.
Die CD „Inspiration“ mit dem Ensemble „Voca Me“ ist zu haben bei Berlin Classics Edel Records unter der Bestellnummer 0300425BC.

Marienkult: Musikalische Mysterien der Mutter Gottes
Maria stünd in swindem serczen
Pey dem kreucz und waint von herczen
Da ir werder sun an hieng
Ir geadelte zartte seele
Ser betruebt in jamers quele
Scharff ein sneyduntz swert durchgieng
Aus: „Stabat Mater“ des Mönch von Salzburg (Ende des 14. Jahrhunderts).

Um den Umfang des Marienkultes in der ganzen Christenheit des Mittelalters zu ermessen, muss man den Platz entdecken, den die Heilige Jungfrau Maria, sowohl in der katholischen wie auch in der orthodoxen Liturgie einnimmt. So die Gebete zu Maria, wie die großen Hymnen der ältesten Kirchentradition, unter anderem den berühmten Akathistos Hymnus aus dem 6. Jahrhundert oder das bekannteste Mariengebet aller Zeiten, den Rosenkranz und seine Weiterentwicklung, den Psalter oder auch das berühmte Magnificat zu Ehren der Heiligen Jungfrau oder die unzähligen Entwicklungen in allen Sparten der Maria geweihten Musik und Kunst. Das Glaubensprinzip: Maria wird verehrt; Gott allein wird angebetet. Maria ist ein „heiliges“ aber menschliches Geschöpf, das man verehrt. Jedoch ist die Verehrung, die man Maria erweist, höher als diejenige aller anderen Heiligen, da Maria von Nazareth wirklich als die einzige, unter allen Kreaturen, die Gott erschaffen hat gilt, die Ehrentitel wie “Mutter Gottes“, “Mutter des Erlösers“, “Mutter der Kirche“, “Königin des Himmels und der Erde” tragen darf. Obwohl das Neue Testament nur wenig über Maria die Mutter Jesu, berichtet, wuchs schon bald ein reicher Legendenkreis um ihre Person – sicher nicht zuletzt aus dem Bedürfnis nach einer weiblichen, speziell mütterlichen Leit- und Trostfigur neben der eher als männlich-streng gedachten Gottheit. Das ökumenische Konzil von Ephesus in Jahre 431 begründete bereits mit dem Glaubenssatz von Maria als der Gottesgebärerin das Lehrgebäude der Mariologie. Maria ist die Mutter Jesu Christi, der im Christentum der Sohn Gottes ist. Die Annahmen der ewigen Jungfräulichkeit, der leiblichen Aufnahme in den Himmel und der "Unbefleckten" Empfängnis Mariens wurden schon im frühen Mittelalter vertreten. Der Marienkult wurde vor allem in Ordensgemeinschaften unter anderen den Zisterziensern gepflegt. Erst vom 11. Jahrhundert an, vermehrt im 14. und 15. Jahrhundert kam eine breite volkstümliche Marienverehrung auf. Zeichen marianischer Frömmigkeit waren Kirchenzuwidmungen, mehrfach tägliches Angelusläuten, Marienwallfahrten, Marienfeste (unter anderem „Mariä Geburt“, „Mariä Heimsuchung“, „Mariä Verkündigung“, „Mariä Himmelfahrt“, „Mariä unbefleckte Empfängnis“), Mariendichtung, Rosenkranz- und Ave-Maria-Bet-Praxis. Das "Ave Maria" zum Beispiel, wurde bereits um 1220 zum allgemeinen Gebet der Christenheit.

Maria wuchs bis zum Spätmittelalter eine Stellung über allen Heiligen zu, sie rückte in unmittelbare Nähe der göttlichen Trinität, wurde in der Kunst und Ikonographie vielfach neben Christus thronend dargestellt. Viele Marienwunder bezeugten ihre Macht und die Kraft ihrer Fürsprache. Die Faszination Mariens prägte Denken, religiöses Empfinden, und Dichtung wie Minne- und Meistersang und bildende Künste des Mittelalters.
Die Sammlungen der Wundererzählungen der Jungfrau Maria häufen sich im Mittelalter. Sie sind nicht nur Teil der religiösen Lehre, sondern sie werden zum Volksglauben und bilden so die Verbindung zwischen Kirche und Welt. Diese Wundererzählungen finden sich auch in Liedsammlungen die schließlich an den Höfen besonders in Frankreich und Spanien aufgezeichnet und gesammelt wurden.

In Spanien beispielsweise in den „Cantigas de Santa Maria“, auf die wir später noch eingehen werden, die am Hofe von Alfonso el Sabio, genannt „der Weise“ (1221-1284) gesammelt und aufgezeichnet wurden. Alfonso erlaubte es an seinem Hof arabischen, jüdischen und maurischen Einflüssen neben den westlichen, christlichen Glaubens- und Kulturrichtungen (fast) gleichberechtigt zu koexistieren.
Ein echter „Multi-Kulti-Monarch“ seiner Zeit und so klingen die „Cantigas de Santa Maria“ dann auch oft nach arabischer Musik. Diese Cantigas wurden von den Gläubigen bei ihren Wallfahrten gesungen und stellen mit die ersten „internationalen Hits“ der Musikgeschichte dar, da sie durch die Pilger Verbreitung im ganzen damaligen Europa fanden.

In Nordfrankreich komponierte zu dieser Zeit des frühen 13. Jahrhunderts Gautier de Coincy (1177-1236), auch zuweilen geschrieben Gauthier de Coinci, seine Marienvisionen, die er wie Liebesgedichte an die Heilige Jungfrau umsetzte, eine Art Minnesang und Anbetung der himmlischen Königin. Neben ihm gab es Minnesänger, die sich der Marienverehrung widmeten und sie wie „Notre Dame“ – „Unserer Lieben Frauen“ verehrten – so der Troubadour Thibault de Champange (1201-1253).

Anne Azema, die faszinierende Stimme der Boston Camerata Joel Cohens, über den wir in KlassikKompass an anderer Stelle schon berichteten, hat mit der Sängerin und Rezitatorin Shira Kammen ein faszinierendes Album aufgenommen das den mystischen Gesängen um die Heilige Maria gewidmet ist: „Le Miracle Medieval“ – „Wunder des Mittelalters“.
Es ist etwas für interessierte Spezialisten, die sich mit dieser mittelalterlichen Mystik intensiver beschäftigen wollen, faszinierende Musik die visionär und erleuchtend wirkt.

Die CD „Le Miracle Medieval“ mit Anne Azema und Shira Kammen ist zumeist antiquarisch in Europa zu haben bei Calliope Records unter der Bestellnummer CRL 2925.

Alfonso X., genannt „El Sabio“, der Weise, war König von Kastilien und León von 1252 bis 1282 und von 1257 bis 1273 König des Heiligen Römischen Reiches. Sein beträchtlicher wissenschaftlicher Ruf basiert darauf, dass er sowohl der Verfasser mehrerer größerer Gedichte sowie eines chemischen und eines philosophischen Werkes war, als auch die Astronomie und die Anerkennung der ptolemäischen Kosmologie förderte, die ihm durch die Mauren bekannt geworden waren.

Der König gründete in Toledo außerdem eine Übersetzerschule für Juden, Moslems und Christen, die große Leistungen in der Vermittlung arabischen und jüdischen Wissens ins christliche Europa vollbrachte. Hier wurden sowohl das Alte Testament aus der lateinischen Fassung der Vulgata ins Kastilische übersetzt, als auch klassische Werke über Astronomie, Mathematik und Philosophie.
Zusätzlich zu seinen übrigen Leistungen gab Alfons X. viele schriftstellerische Werke in Auftrag, zum Beispiel die oben erwähnten “Cantigas de Santa Maria”, mehr als 400 galizische Lieder über die Jungfrau Maria.

Andalusien, die Heimat Alfonsos, war im Mittelalter ein wahrer Schmelztiegel der Kulturen – besonders beeinflusst von den Mauren Nordafrikas und den Sephardim, den jüdischen Einwohnern. So unternahm Joel Cohen, oben bereits erwähnt, mit seiner „Camerata Mediterranea“ und einer arabischen Gruppe namens „Abdelkrim Rais“ aus Fez in Marokko die Cantigas de Santa Maria so aufzuführen, wie sie der König zu seiner Zeit gehört haben mag, mit westlichen und arabischen Instrumenten. Er benutzt außerdem die alte Originalsprache Andalusiens, eine Mischung aus Spanisch und Maurisch, um diese Lieder im Originalklang zu interpretieren. Eine Aufnahme, die faszinierend die musikalischen Wurzeln Europas freilegt und in ihrer musikantischen „Feurigkeit“ nichts zu wünschen übrig lässt. So „heißblütig“ ist die Mutter Maria wohl selten angesungen worden wie auf dieser CD.

Die CD Alfonso X el Sabio „Cantigas de Santa Maria“ mit der Camerata Mediterranea unter Joel Cohen und der Musikergruppe Abdelkrim Rais ist zu erhalten bei Apex Records unter der Bestellnummer 2564 61924-2.

Ein besonderer jährlicher Fokuspunkt der Marienverehrung im Mittelalter war die Heilige Woche rund um die Passion Christi. Maria rückt als leidende Mutter in den Mittelpunkt des liturgischen Geschehens und viele Lieder und Gesänge zu ihrer Verehrung stammen aus dieser Zeit des Jahres.

Auf der CD „Spätmittelalterliche Marienklage“ hat das „Ensemble für frühe Musik Augsburg“ – das wir auch im Rahmen von KlassikKompass an anderer Stelle bereits vorstellten – eine beeindruckende Sammlung von Marienliedern zusammengestellt, die um den Passionskreis zirkeln.
Dabei hört man unter anderem die deutsche Fassung des berühmten lateinischen Antiphon „Media vita in mortue sumus“ – „Mitten im Leben sind von dem Tod umfangen“, aus St. Peter in Salzburg um 1450.

Besonders faszinierend ist auch das Lied des Minnesängers Oswald von Wolkenstein, das er der leidenden Mutter Maria widmete „Compassio Beate Virginis Marie“ – „Leidenschaftliches Mitleid mit der Jungfrau Maria“, in dem Wolkenstein ohnehin einer der emotionsbetontesten Dichter seiner Zeit eine zu Herzen und Gemüt gehende Liebeserklärung sein „die Hohe Frouwe“ abliefert: „Unzälich klag und senlich mat bedächtikleich was frau erlaubt als dich Vernunft wiederum betrat und du deines Kindes ward beraubt durch solche lewt die ich nicht trewt die in välschlich an ware zeich verklagen vor des Richters Stab...“

Ebenfalls auf der CD zu finden sind Marienklagen des Mönches von Salzburg, ein ergreifendes „Stabat Mater“ das unsere Reise durch die marianische Musikverehrung einleitet und weitere zeitgenössische Marienklagen. Eine höchst zu empfehlende CD, die alles andere als „nur traurig“ ist – dafür sorgen schon die Musiker des Ensembles für frühe Musik Augsburg die mit viel Einfühlungsvermögen und musikalischem Empfinden dieses Programm einspielten.

Die CD „Spätmittelalterliche Marienklage“ mit dem Ensemble für frühe Musik Augsburg ist zu haben bei Christophorus Records in der Reihe „Entree“ unter der Bestellnummer CHE 0160-2.

Bereits die frühen Christen suchten besondere Orte, wie das Grab Christi oder Begräbnisstätten der Apostel auf, um dort zu beten. Diese Stätten lagen überwiegend im Heiligen Land oder in Rom, man kann sie daher als die ersten Wallfahrtsorte bezeichnen. Natürlich wurden auch Wallfahren zu besonderen Madonnenstatuen und Marienkathedralen unternommen, denen man oft Heilwirkungen und Rettung von vielen Nöten unterstellten.
Ab etwa 900 nach Christus entwickelte sich allmählich ebenfalls eine rege Wallfahrt zum Grab des Heiligen Jakobus nach Santiago de Compostela. Der Beginn einer solchen Wallfahrt wird häufig durch eine Aussendung gestartet. Dies geschieht häufig während einer Eucharistiefeier oder eines Wortgottesdienstes. Pilgermarken vom Zielort sollten belegen, dass der Beauftragte tatsächlich dort gewesen war. Die Pilger hatten eine spezielle Tracht: Langer Mantel, breitkrempiger Hut, Pilgertasche, Trinkflasche und Pilgerstab. Das Beherbergen von Pilgern zählte zu den Werken der Barmherzigkeit und gab an den Segensfrüchten der Wallfahrt Anteil. Die Einkünfte durch die Pilger kamen den Durchreiseländern, den Ritterorden, die Schutz verkauften, und den Orten der Pilgerreiseziele zugute. Auch die jeweiligen kirchlichen Institutionen erzielten nicht unwesentliche Einnahmen.
Das Ensemble für frühe Musik Augsburg mit Jörg Genslein (Gesang), Rainer Herpichböhm (Gesang, Laute und Harfe), Hans Ganser (Gesang, Flöte, Schlagwerk) und Heinz Schwamm (Gesang, Fidel und Schalmei) bietet auf ihrer CD „Auf Jacobs Wegen“ eine Wallfahrt in Musik von Deutschland über Frankreich bis nach Santiago de Compostela in Pilgerliedern des Mittelalters vom 12. bis zum 15. Jahrhundert.

Darunter auch Marienlieder unter anderem vom oben bereits erwähnten Minnesänger Gautier de Coincy und „Cantigas de Santa Maria“.
Diese CD bietet einen einmaligen höchst unterhaltsamen Reiseüberblick von der Musik die Pilger sangen und musizierten um das Ziel ihrer Verehrung zu erreichen.
Die CD „Auf Jacobs Wegen“ mit dem Ensemble für frühe Musik Augsburg ist zu haben bei Christophorus Records unter der Bestellnummer CHR 77264.
Unsere Pilgerreise durch die Orte und Musik der Marienverehrung endet natürlich an der berühmtesten mittelalterlichen Marienkathedrale, die den Namen der „Hohen Frau“ trägt: „Notre Dame“ in Paris.

Die Kathedrale Notre Dame wurde in den Jahren von 1163 bis 1345 errichtet und ist somit eines der frühesten gotischen Kirchengebäude Frankreichs. Mit ihr ist nicht nur eines der wichtigsten Zentren der Marienverehrung verbunden, sondern auch der wichtige musikgeschichtliche Schritt von der Ein- zur Mehrstimmigkeit in der europäischen Kirchenmusik, davon später mehr.

Notre Dame liegt auf einer Seine-Insel mitten in Paris und war eine der führenden Wallfahrtskirchen der Mittelalterlichen Marienverehrung.
Das Harp Consort unter Andrew Lawrence King hat eine bemerkenswerte CD veröffentlicht mit Liebesliedern an die Jungfrau Maria unter dem Titel „Miracles of Notre Dame“. Die Sammlung bezieht sich unter anderem wieder auf Werke des Minnesängers Gautier de Coincy und seiner Zeitgenossen die am Ende des ersten Jahrtausends entstanden – zur Bauzeit der Kathedrale.

Das Consort bestehend aus Vocalisten sowie Instrumentalisten auf mittelalterlichen Instrumenten, unter anderem der Gambistin Hille Perl (Vielles), Ian Harrison (Dudelsack, Shawm – ein mittelalterliches Blasinstrument – und Cornett) sowie dem Leiter Andrew Lawrence King (Harfe, Psalterion und Organetto). Die CD breitet einen musikalischen Teppich aus, der vom Frühmittelalter mit seinen einstimmigen Antiphonen in seiner Farbigkeit bereits zur Schule von Notre Dame mit ihrer mehrstimmigen Polyphonie führt.
Die CD „Miracles of Notre-Dame“ mit dem Harp Consort unter Leitung von Andrew Lawrence King ist zu haben bei Harmonia Mundi Records unter der Bestellnummer HMU 907317.

Antiphon zur Polyphonie: Entwicklung der Heiligen Messe
Eine mittelalterliche Handschrift aus dem 13. Jahrhundert besagt: „Die Zeit in der das erste Jahrtausend sich seinem Ende zuneigte, war beherrscht von Angst und Hoffnung, Zusammenbruch und Erneuerung, brutaler Anarchie und dem schwer fassbaren Versprechen eines weltweiten Friedens. Rund um das im neunten Jahrhundert entstandenen Reich Karls des Großen brachen Bündnisse auseinander und Europa stürzte in einen Strudel blutiger Fehden, Invasionen und Kriege.

Langsam und unter Schmerzen kam unter den Trümmern allmählich eine neue europäische Ordnung zum Vorschein. Vormals heidnische Könige sahen im Christentum eine Kraft zu politischer Zivilisation und Vereinigung. Unter der überragenden Leitung von Papst Sylvester II (950-1003), dem ehemaligen Gelehrtenmönch Gerbert von Aurillac, begann die Kirche alsbald diese spirituelle Kraft in politische Macht umzumünzen. So entstanden nach dem fünfhundert Jahre zuvor erfolgten Zusammenbruch des römischen Reiches in der westlichen Welt erstmals wieder Monumentalbauten, großartige Kathedralen. Gleichzeitig kam es in der westlichen Liturgie und der damit verbundenen Musik zu einem Ausbruch an intensiver schöpferischer Energie. Das Repertoire des herkömmlichen Gregorianischen Gesangs wurde grundlegend erneuert und erheblich erweitert mit bedeutenden musiktheoretischen Entwicklungen. Dazu Solmistationssilben, wodurch es möglich wurde, die neuen Kompositionen rasch zu lernen, aufzuschreiben und in ganz Europa zu verbreiten...“ Auszug aus einem Artikel von Susan Hellauer aus dem Begleitheft der CD: „1000. A Mass for the End of Time“ von Anonymus 4.

Die Notre-Dame-Schule bezeichnet in der Musikgeschichte gemeinhin den Zeitraum von 1160 bis 1230. Die mehrstimmige Musik, die durch den Namen Notre-Dame-Schule hatte in der Kathedrale von Notre Dame de Paris ein Zentrum.
Diese neue Mehrstimmigkeit ersetzte im Zuge der nächsten tausend Jahre nach und nach die einstimmigen Antiphone und ergänzte sie und leitete das Zeitalter der Polyphonie, der Vielstimmigkeit, der Kirchenmusik ein.
Als Kathedralkunst ist die Musik dieser Zeit ihrer Funktion nach eine Form von liturgischer Musik. Ihr Repertoire besteht aus Choralmelodien, genauer gesagt aus den responsorialen Gesängen der Messe und des Offiziums, die oft polyphon ausgeführt wurden.

Messe (Missa) heißt diese Gattung musikalischer Kompositionen, denen die Texte der Heiligen Messe der katholischen Liturgie zugrunde liegen.
Neben den gleichbleibenden Texten (Ordinarium) werden oftmals auch die nach dem Kirchenjahr oder Anlass veränderlichen Texte (Proprium) vertont. Während die einzelnen Teile der Messe nach ihren Anfangsworten benannt sind, heißt die Messe selbst nach ihrem Schlusswort „Ite, missa est“ (wörtlich etwa: „Gehet nun aus...“).

Ordinarium Proprium
Introitus (Chor)
Kyrie eleison
Christe eleison
Gloria

Graduale mit Halleluja
und Vers oder mit
Tractus
(vom 9. Jahrhundert an
Sequenz)
Credo

Offertorium mit Versen
für Chor und Solist
Sanctus mit
Hosanna und Benedictus

Agnus Dei

Communio (Chor)
Ite missa est


Ausgehend vom Gregorianischen Choral wurden in der Karolinger-Zeit die Propriumsteile erweitert. Dazu bediente man sich zweier Kompositionsmittel: des Tropus und der Sequenz.

Die Teile der Messe in der Reihenfolge ihrer liturgischen Funktion:
- Kyrie eleison. Christe eleison („Herr erbarme Dich, Christe erbarme Dich“)
- Gloria in Excelsis Deo („Preis sei Gott“)
- Credo in unum Deum (Wir glauben all’ an einen Gott“)
- Sanctus („Heilig ist der Herr Zebaoth“)
- Hosanna und Benedictus („Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn“)
- Agnus Die („O du Lamm Gottes, das du trägst die Sünden der Welt“)

Ein erster Schritt in Richtung einer mehrteiligen Mess-Komposition wird im 13. und 14. Jahrhundert gegangen, als man das Gloria und Credo oder Sanctus und Agnus Dei als Paare zusammenfasst. Schließlich entstehen auch Sammlungen, die aus Vertonungen sämtlicher Messesätze bestehen.

Ein fundamentaler Wendepunkt ist die „Messe de Nostre Dame” von Guillaume de Machaut um 1364. Dies ist die erste erhaltene Vertonung eines vollständigen Messordinariums, die von einem namentlich bekannten Komponisten stammt, und gleichzeitig die älteste bekannte Messe im vierstimmigen Satz.

Wir wollen hier zwei sehr unterschiedliche Beispiele von lateinischen Messen vorstellen, an denen man die Entwicklung dieser Kirchenmusikform im Laufe der mittelalterlichen Aufführungspraxis gut verfolgen kann.

Eine Messe „Für das Ende der Zeit“, die um die erste Jahrtausendwende entstand und noch weitgehend aus Antiphonen und Einstimmigkeit basiert, aber schon erste schüchterne Mehrstimmigkeitsversuche aufweist.
Die zweite „Missa Se la face ay pale“ des flämisch-wallonischen Komponisten Guillaume Dufay (1400-1474) entstanden zwischen 1452 und 1458, also bereits im Spätherbst des Mittelalters an der Schwelle zur Renaissance zur farbigen, prächtigen Polyphonie entwickelt.

„Anonymus 4“, eine Gruppe von Vocalistinnen aus New York, Marsha Genensky, Susan Hellauer, Jaqueline Horner und Johanna Maria Rose haben mittlerweile einen internationalen Ruf als Interpretinnen und Musikwissenschaftlerinnen besonders im Bereich der frühen Musik erworben.
Eine ihrer ersten Aufnahmen des 1986 gegründeten Ensembles zur Jahrtausendwende 2000 war die „Mass for the End of Time“ eine gelungene Rekonstruktion einer Antiphon Messe um 1000 nach Christus. Diese Messsätze werden von Anonymus 4 in einer berückenden stimmlichen Klarheit und faszinierenden Schönheit vorgetragen, wie man sie wohl kaum sonst zu hören bekommt. Ich hatte das Vergnügen die Gruppe live bei den „Tagen Alter Musik“ in Regensburg vor einigen Jahren mit einem Konzertprogramm im dortigen Dom zu erleben – wer immer die Möglichkeit hat, diese erstaunlichen vier Damen im Konzert zu erleben, wird dieses nicht mehr so schnell vergessen. Die auf der CD aufgeführte „Messe für das Ende der Zeit“ wurde für die Himmelfahrt geschrieben und bezieht sich in ihrem Text sowohl auf diese Auffahrt Christi als auch auf Texte der Apokalypse. Man kann in den um zwei Alleluja und Trophisches Offetorium und Communio sowie einem abschließenden Hymnus erweiterten Messsätzen gut erkennen, wie sich die musikalische Messe seit dem Jahre 1000 kristallisierte.

Eine sehr empfehlenswerte Aufnahme von ausgemachter musikalischer und interpretatorischer Schönheit.

Guillaume Dufay (1397-1474), oft auch Du Fay geschrieben, war ein flämisch-wallonischer Komponist, Sänger und Musiktheoretiker. Er gilt als Begründer der franko-flämischen Schule und einer der Altmeister der Musik des 15. Jahrhunderts. Von 1428 an wurde er Mitglied der päpstlichen Kapelle in Rom und Florenz. 1436 komponierte er eines seiner berühmtesten Werke, die Motette “Nuper rosarum flores“, die anlässlich der Weihe von Brunelleschis Kuppel des Doms zu Florenz aufgeführt wurde. Er wirkte ab 1440 wieder in seiner Heimat Cambrai. Als Kanoniker war er auch in der Kathedralverwaltung tätig. Seine etwa 200 erhaltenen Kompositionen umfassen geistliche und weltliche Werke unter anderem sieben vollständige Messen und Messsätze, drei Magnificats, 24 Hymnen und andere liturgische Werke, 19 lateinische Motetten geistlicher und weltlicher Art, eine Sammlung einstimmiger Choräle und überdies über 80 Chansons in französischer und italienischer Sprache.
Dufay stand Zeit seines Lebens in den Diensten der führenden Höfe Europas so in Ferrara, Burgund und Savoyen und wurde von bedeutenden Komponisten aufgesucht. Er wurde bereits von seinen Zeitgenossen als der führende Musiker seiner Zeit angesehen, seine Kompositionen wurden in ganz Europa aufgeführt.

Das flämische Ensemble „Diabolus in Musica“ spielte Dufays Messe „Se la face ay pale“ bestimmt für den Sonntag Trinitatis ein. Diese Messe beinhaltet alle liturgischen Sätze, die eine komplette Heilige Messe nach lateinischer Art umfassen kann. Der Stil ist sehr modern für das Mittelalter und reicht schon in seiner reichen Verzierung der Stimmen in die Frührenaissance. Manchen wird die Messe auch an englische Vorbilder erinnern wie später die Werke des Komponisten Heinrichs VIII, Thomas Tallis (1505-1585), mit ihren falsettierenden Oberstimmen.
Dufay orientierte sich auch am englischen Stil von zum Beispiel seinem Zeitgenossen dem Kirchenmusiker John Dunstable (1390-1453), der ihn mit prägte.

Das hervorragende reine Männer-Vocal-Ensemble „Diabolus in Musica“ unter Leitung von Antoine Guerber zeigt mit welcher Klarheit und Durchsichtigkeit in den frühen Werken der Kirchenmusik der Renaissance Mehrstimmigkeit gewebt wurde. Ein reines Hörvergnügen und ein interessanter Vergleich zur „Messe für das Ende der Zeit“ entstanden mehr als 400 Jahre vorher.

Die CD „A Mass for the End of Time“ mit dem Ensemble Anonymus 4 ist zu erhalten bei Harmonia Mundi Records unter der Bestellnummer HMU 907224.
Die CD Gulliaume Dufay „Missa Se la face al pale“ mit Ensemble Diabolus in Musica ist zu haben bei Alpha QutThere Records unter der Bestellnummer Alpha 908.

Katharer und Sepharden: Die Klage der „Ketzer“
Ein Inquisitions-Tribunal ausgeführt durch Dominikaner Mönche:
“Ausis Creator benigne, ausis las nostras peregarias. En Aqueste sant quaresme, quaranta jorns espandidas. Bon espaire dels cors, sabes la nostra flaquesa, a-n-aqueles que capa Tu se viran dona gracia del perdon. Forca es tot co que pecam, mas pauc co que confessam; per la gloria den Ton nom dona remedi als que languisson.”

„Herr, guter Schöpfer, höre unsere Gebete, die vierzig Tage gesprochen in diesem heiligen Fasten. Du durchleuchtest die Herzen, weist um unsere Schwäche, gewähre die Verzeihung dem, der sich an Dich wendet. Viel sündigen wir, doch vergib uns unsere Beichte, die Kranken heile zu Ehren Deines Namens.“ Gulliaume Dufay (1397-1474)

Mit jeder Macht wächst auch ihr Missbrauch – das ist auch an der Entwicklung der Kirche seit dem Jahre 1000 abzulesen. Als „allein seligmachende“ Institution von eigenen Gnaden versuchte die römisch-katholische Kirche schon zu dieser Zeit anders Denkende und namentlich anders Glaubende mit Gewalt aus dem Feld zu schlagen. Der Kampf gegen die „Häretiker“ begann – die „Ketzer“.

Erstes Ziel dieses über 600 Jahre dauernden Vernichtungsfeldzuges gegen den geistlichen Wettbewerb war eine harmlose Glaubensgemeinschaft die hauptsächlich im Süden Frankreichs wirkte: die Katharer.
Der Begriff Katharer (von griechisch: katharós, ‚rein‘) steht für die Anhänger einer christlichen Glaubensbewegung vom 12. Jahrhundert bis zum 14. Jahrhundert die vornehmlich im Süden Frankreichs, aber auch in Italien, Spanien und Deutschland angesiedelt war. Verbreitet ist auch die Bezeichnung „Albigenser“ nach der südfranzösischen Stadt Albi, einer ehemaligen Katharer-Hochburg. Weitere Zentren der katharischen Bewegung waren die südfranzösischen Städte Toulouse und Carcassonne sowie Bezier.
Die Katharer selbst nannten sich „veri christiani“ (‚die wahren Christen‘) oder „Bonshommes“ (gute Menschen) und bildeten eine der größten religiösen Laienbewegungen des Mittelalters. Um 1160 besaß die Gemeinschaft schon eine große Zahl von Anhängern, insbesondere in Südfrankreich (Okzitanien).

Für die römisch-katholische Kirche stellten die Katharer eine gefährliche und völlig neue Bedrohung dar. Die Katharer glaubten nämlich, das Maria Magdalena und Johannes der Täufer die eigentlichen Glaubensstifter des Christentums gewesen waren und Jesus lediglich deren Jünger – und damit nicht „Gottes Sohn“ – das stand natürlich im krassen Gegensatz zur offiziellen kirchlichen Lehre! Erstmals war damit in Europa der Versuch eine Gegenkirche zu etablieren unternommen worden und regional auch gelungen. In den Augen der Päpste galt die katharische Bewegung als Häresie. Der Begriff „Ketzer“ leitet sich ebenfalls seither von dem Namen „Katharer“ ab.

1198 wird Innozenz III. (1160-1216) Papst und er wendet sich sofort gegen die Katharer, indem er 1207 erstmal den Grafen von Toulouse, Raimund VI (1156-1222), Beschützer der albigensischen Bewegung, exkommunizierte.
Daraufhin wird 1208 der päpstliche Legat Pierre de Castelnau in Toulouse ermordet, und Innozenz nimmt dies zum Anlass im gleichen Jahr die nordfranzösischen Ritter zum Kreuzzug gegen die Katharer im Süden aufzurufen. Der unter Simon IV. de Montfort gegen die Katharer begonnene und in mehreren Phasen geführte Albigenser-Kreuzzug (1209-1229) richtete verheerende Schäden und großes menschliches Leid an, wie etwa die Massaker in Béziers, bei dem mehr als 10.000 „Ketzer“ und viele unschuldige Einwohner ums Leben kamen. Ab 1299 kam es in den Pyrenäentälern der französischen Grafschaft Foix zu einem Wiederaufleben des Katharertums. Die Bewegung wurde wiederum durch die Inquisition zunächst unter Inquisitor Gottfried d’Ablis, später unter Inquisitor Bernard Gui und unter geistlicher Leitung der Dominikaner verfolgt.

Der Orden der Dominikaner, auch genannt „Predigerorden“, lateinisch „Ordo fratrum Praedicatorum“, war bereits im frühen 13. Jahrhundert vom heiligen Dominikus (1170-1221) gegründet worden. Die Dominikaner stellten seit dem Beginn der Inquisition im päpstlichen Auftrag Inquisitoren zur Aufspürung und Verfolgung von Häretikern. Aufgrund der Erfahrungen, die der Orden bereits früh in Auseinandersetzung mit Häretikern gesammelt hatte, sowie seiner intellektuellen Ausrichtungen, bot er dafür besonders gute Voraussetzungen. Im Jahre 1231 vergab Papst Gregor IX. (1167-1241), ein Nachfolger Innozenz III, in seinem ausgestellten Sendschreiben „Ille humani generis“ nunmehr mehreren Dominikanerkonventen den Auftrag zur Verfolgung von Häresien. Besonders aktiv und eifrig wurden die Dominikaner, die man deshalb auch als „domini canes“ (Hunde des Herrn) bezeichnete, daraufhin in Südfrankreich bei der inquisitorischen Bekämpfung der albigensischen „Ketzer“.

Die Anführer der Katharer-Bewegung, darunter die Brüder Autier, wurden 1309 und 1310 verbrannt. Der letzte Albigenser-Bischof Belibaste wurde 1321 auf dem Scheiterhaufen in Villerouge-Termenès verbrannt, die letzte bekannte Verhaftung eines Katharers ist für 1342 in Florenz dokumentiert.

Die Ruinen, der oft auf schwer zugänglichen Felsen angelegten Katharer-Burgen, wie die Burg Montségur, in der die letzten Katharer von den Kreuzrittern umzingelt Massenselbstmord begingen, prägen noch heute das Bild der Landschaft des nordöstlichen Pyrenäenvorlandes. Diese Festung und letzte Zuflucht der Katharer wurde auch das Vorbild der Burg „Monsalvat“ in der Gralserzählung des Ritters Lohengrin in Richards Wagners gleichnamiger Oper, uraufgeführt im August 1850. In ihr und in der späteren Oper „Parsifal“, uraufgeführt im Juli 1880 verarbeitete Wagner Grundzüge und Motive der katharischen Lehre – so das Mysterium des heiligen Gral und Speers.

„Jenseits von Mythen und Legenden verdient die zerstörte Erinnerung an die außergewöhnliche Kultur des Landes d’Oc (Südfrankreich) aus dem ein wahrlich vergessenes Reich wurde, die furchtbare Tragödie der Katharer oder „guten Menschen“ und das Zeugnis, das sie von ihrem Glauben ablegten, unseren vollen Respekt und all unsere Anstrengung zu deren Fortbestehen. Acht Jahrhunderte sind verstrichen und die Erinnerung an den Kreuzzug gegen die Albigenser ist nicht verschwommen. Sie weckt immer noch Nostalgie und Mitleid...“ Auszug aus dem Vorwort von den Musikern Jordi Savall und Montserrat Figueras zu ihrem Buch- und CD-Projekt „Das vergessene Königreich – die Tragödie der Katharer“.

Das Schicksal der Katharer hat den katalanischen Gambisten, Dirigenten und Musikwissenschaftler Jordi Savall angeregt, im Jahr 2009 eine breite Studie über die Musik rund um die katharische Welt vorzulegen. Jahrelange historische und musikhistorische Recherchen waren diesem wohl einmaligen Projekt vorausgegangen. Das Ergebnis unter dem Titel „ Das vergessene Königreich – Die Tragödie der Katharer“ wurde in einem über 600 Seiten starken reich bebilderten siebensprachigen Buch – natürlich auch in Deutsch und mit drei CDs voll mit faszinierender Musik der Zeit niedergelegt.

Die beiden Ensembles Savalls und seiner 2012 verstorbenen Ehefrau, Partnerin und „Stimme“ Montserrat Figueras, Hesperion XXI und La Capella Reial de Catalunya, zeichnen ein wahres musikalisches „3D Cinemascope“ Gemälde für Augen und Ohren das mit den Ursprüngen der katharischen Kultur in Bulgarien beginnt, über die Papstpaläste in Rom und anderswo führt und in den Kreuzzügen gegen die Katharer endet.
Dazu werden Texte rezitiert in der alten Sprache des „Okzitanisch“, die im Buch alle zum Mitlesen in alle sieben Sprachen übersetzt wurden – genau wie die Texte der Gesänge und Messsätze die im Album zu finden sind.
Die alte Kultur dieser „guten Menschen“ wird so wieder ans Licht gehoben und man kann sich auf eine Reise begeben mit Musik, Bildern und Texten die das „vergessene Königreich“ zum neuen Leben erweckt.

Das Buch mit CDs „Le Royaume Oublie – Das vergessene Königreich – die Tragödie der Katharer“ mit den Ensembles Hesperion XXI La Capella Reial de Catalunya mit der Sängerin Montserrat Figueras unter der Leitung von Jordi Savall ist zu haben bei Alia Vox Records unter der Bestellnummer AVSA 9873 A/C.

Auch der Frieden des „Weisen“ Königs Alfonso X. war nicht von Dauer. Seine visionäre Idee von einem toleranten Königreich der verschiedenen Glaubens- und Kulturrichtungen wurde bereits von seinen Nachfolgern zerschlagen. Erste Opfer der neuen „Verketzerung“ wurde die jüdische Bevölkerung Spaniens, auch „Sepharden“ genannt. Als Sephardim bezeichnen sich diese Juden und ihre Nachfahren bis heute.

1391 kam es in Sevilla zu einem Pogrom. Nach Abschluss der Reconquista Spaniens stellten Ferdinand II. (1452-1516) und Isabella I. (1451-1504), „Los Reyes Católicos“ (die „Katholischen Könige“), mit dem Alhambra-Edikt vom 31. März 1492 die Juden Spaniens vor die Wahl zwischen Exil oder Konversion zum Christentum.
Die nicht konvertierenden Sephardim flohen in alle Himmelsrichtungen. Nach der Vertreibung aus Spanien ließ sich ein Teil von ihnen in Nordafrika nieder, vor allem in Marokko in den Städten Fès und Casablanca. Ein weiterer Teil siedelte sich auch in Nordeuropa an, insbesondere in den Seehandelsstädten Flanderns und der Niederlande, Antwerpen und Amsterdam sowie in Norddeutschland, dort vor allem in Altona.

Die Kultur der Exil-Sephardim beruhte weiterhin auf der iberischen Kultur:
„Viel von der Musik auf dieser Aufnahme wurde in den traurigsten und auf beschämende Weise grausamsten Ecken des alten Europas geschaffen – den Ghettos. Trotzdem waren Juden und Christen, wenn sie auch häufig gezwungen waren, getrennt zu leben, auf viele Arten, im Kleinen und im Großen voneinander abhängig. Diese Sammlung, deren Titel sich von der wegweisenden Studie jüdischer und christlicher liturigischer Musik „The Sacred Bridge“ herleitet, macht den Versuch, einige dieser Zusammenhänge durch die Musik und Dichtung der Epochen vor der Aufklärung nachzugehen.“
Der Musiker Joel Cohen über seine CD „Die heilige Brücke“.

Die christlich-jüdischen, gemeinsamen, musikalischen Wurzeln des Mittelalters werden von Joel Cohen und seiner Boston Camerata auf der CD „The Sacred Bridge“ offengelegt und wieder hörbar und erfahrbar gemacht.
Mit seinem erstklassigen Ensemble und selber als Bariton Interpret agierend, mit Anne Azema (Sopran), Michael Coliver (Countertenor) John Fleagle (Tenor) und Elle Hargis und Lynn Torgrove (Sopran) den Solo-Instrumentalisten Jesse Lepkoff (Floeten), Carol Lewis und Alice Robbins (Vielle und Violen) lässt uns Joel Cohen in die Welt der Sephardim musikalisch eintauchen.

Lieder aus dem Exil, Gregorianische Gesänge, Lieder jüdischer Musiker (genannt „Minstrels“) an christlichen Höfen und jüdische Folklore aus dem Mittelmeerraum sowie spanische Musik der Mystik und Abschiedsgesänge der iberischen Sephardim sind auf dieser wirklich ungewöhnlichen und faszinierenden CD zu hören. Auch hier wird erfolgreich eine (fast) vergessene Kultur musikalisch zu neuem Leben erweckt.

Die CD „The Sacred Bridge – Juden und Christen im Mittelalter Europas“ mit dem Ensemble Boston Camerata unter der Leitung von Joel Cohen ist zu haben bei Apex Records unter der Bestellnummer 2564 69895-6.
Das Mittelalter legte die Grundlagen für die Kirchenmusik bis in die Romantik hinein. Die großen sakralen Werke der Renaissance und des Barock wären nicht denkbar gewesen ohne die Monodie, die Antiphonen, die Gregorianik des Mittelalters.

Ziel all dessen, war es dem Gläubigen ein Abbild der himmlischen Freuden zu vermitteln. Die Bücher der Bibel waren im Mittelalter nur im Original oder übersetzt in Latein oder Griechisch verfügbar. Bibeln in Landesprachen, die der Gläubige verstand, ließen noch weitere 400 Jahre auf sich warten.

So war die bildende Kunst und die Musik die einzig möglichen, geistigen Zugänge für den Gläubigen Gott näher zu sein, in Formen des Gebets, das mit allen Sinnen erfahrbar wurde. Besonders die Musik erlaubt bis heute der Trinität des menschlichen Empfindens, Seele, Geist und Sinne diese geistliche Erneuerung.

Unsere Reise mit Klassik Kompass durch die Musik des Mittelalters geht weiter: Das nächste Mal beschäftigen wir uns mit dem „Blut der Schlachten und Mut der Helden“.


Fotonachweis:
Header: Details aus "Hildegard von Bingen wird von dem Heiligen Geist in Form eines Feuerstroms ergriffen", zeitgenössische Buchmalerei.
Galerie:
01. Mittelalterliche Neunen aus einem Manuskript der Hildegard von Bingen.
02. Michael Pacher: Altar der vier lateinischen Kirchenväter - Detail mit Augustinus von Hippo und Gregor, um 1483, Alte Pinakothek, München.
03. Cover CD-Box „Hildegard von Bingen“ mit dem Ensemble „Sequentia“.
04. Cover CD „Inspiration“ mit dem Ensemble „Voca Me“.
05. Mittelalterliche Madonnenfigur, Paris, 1365.
06. Cover CD „Le Miracle Medieval“ mit Anne Azema und Shira Kammen.
07. Alfonso X der Weise; "el Sabio" (Burgos 1221-Sevilla 1284), König von Kastillien und León (1252-1284).
08. Cover CD Alfonso X el Sabio „Cantigas de Santa Maria“ mit der Camerata Mediterranea unter Joel Cohen.
09. Cover CD „Spaetmittelalterliche Marienklage“ mit dem Ensemble für frühe Musik, Augsburg.
10. Cover CD „Auf Jacobs Wegen“ mit dem Ensemble für frühe Musik, Augsburg.
11. Cover CD „Miracles of Notre-Dame“ mit dem Harp Consort unter Leitung von Andrew Lawrence King.
12. Mittelalterliche Bibel Handschrift aus dem 13. Jahrhundert.
13. Maitre Guillaume Dufay (Quelle: Wikipedia).
14. Cover CD „A Mass for the End of Time“ mit dem Ensemble Anonymus 4.
15. Cover CD Gulliaume Dufay „Missa Se la face al pale“ mit Ensemble Diabolus in Musica.
16. Pedro Berruguete (1450-1504): Sankt Domenicus, um 1495, Öl auf Holz, Museum Prado Madrid.
17. Papst Innozenz III. (1160–1216). Fresko im Kloster San Benedetto in Subiaco, Latium, um 1219.
18. Buch mit 3 CDs „Le Royaume Oublie – Das vergessene Koenigreich – die Tragoedie der Katharer“ mit den Ensembles Hesperion XXI La Capella Reial de Catalunya mit der Sängerin Montserrat Figueras unter der Leitung von Jordi Savall.
19. Cover CD „The Sacred Bridge – Juden und Christen im Mittelalter Europas“ mit dem Ensemble Boston Camerata unter der Leitung von Joel Cohen.