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Bekenntnisse von Gregor Gyri

„Deutschland im Tiefschlaf?“ Nach der Lektüre dieses interessanten Sachbuches von Stephan Hebel, in dem er dafür plädiert, „den Kapitalismus in seiner heutigen Form zu überwinden“, es sei Zeit für einen neue Wende, verfolgte mich ein Albtraum: Ein Riesenschiff auf hoher See.

 

Passagiere, die sich aus einem anderen Schiff, das wegen eines Lecks in Seenot geraten war, hierher gerettet hatten. Bange Frage: Wohin geht die Fahrt? Alle Blicke richten sich auf die Kommandobrücke. Da steht sie, die sich die Elite nennt. Man redet, quasselt und jeder mischt mit. Aber ans Steuer darf niemand. Einer der Geretteten tut sich durch herzhafte Worte und viel Witz hervor. Er verspricht einen neuen Kurs, einen Westkurs, aber mit neuer Besatzung. Mit einem Riesenbesen fegt er alles ehemals wohl Errungene hinweg, unterbrochen vom Jubel... Indessen wird das Steuerrad
Das Erwachen! Gott sei Dank. Ich lese das Buch: „Ausstieg links? Eine erste Bilanz“. Geschrieben von dem oben genannten Autor Stephan Hebel. Er muss es eilig gehabt haben, denn nun suchte er sich einen Mann, der nicht aus dem Tiefschlaf gerissen werden brauchte. Einen, der hellwach im Politischen seit 1989 das Zepter schwingt, ein Jurist, ein Linker, der mit Witz und Humor ebenfalls nach der Überwindung der Herrschaft des Kapitals strebt: Gregor Gysi. Es ist ein Interview, ohne eine „großangelegte Biografie“ bieten zu wollen. Zwei Gleichgesinnte im Disput. Spannend!

 

 Gregor Gysi „Ausstieg links? Eine Bilanz“ – Stephan HebelWie gut können sich DDR-Bürger an seinen ersten Fernsehauftritt erinnern, als er das von der DDR-Regierung beschlossene Reisegesetz als unzureichend kritisierte und davon sprach, zur Weltanschauung gehöre die Möglichkeit, sich die Welt auch anzuschauen. Welch ein frischer Atem wehte uns da entgegen. Wenig später schwang er allerdings einen Riesenbesen, um allen Resten einer zu großen Engherzigkeit im Umgang mit dem Volk den Rest zu geben. Dass er damit auch den Kompass einer wissenschaftlichen Kursorientierung mit über Bord warf, das wollte niemand sehen. Auch nicht zu bewegen „waren die anderen“, einen neuen deutschen Staat zu bilden, „der die Rechtsnachfolge sowohl der DDR als auch der BRD antritt“.
Allein diese Aussagen im Interview mit Gregor Gysi herausgepickt zu haben, ist bemerkenswert für den Standpunkt des Autors. Überhaupt, das Interview mit dem schlagfertigen und geistvollen Gysi, einer der Hoffnungsträger zur Zeit des Umbruchs (sprich Konterrevolution, vom Resultat ausgehend. Der Rezensent) 1989, liest sich spannend. Geht der Autor mit seinen 107 Fragen (falls ich richtig gezählt habe) sowohl auf sehr persönliche Fragen des Interviewpartners ein, sondern auf jene, die wohl am meisten unter den Nägeln brennen? Was habe sich zum Beispiel seit dem Einzug der Linksfraktion in den Bundestag in der Politik geändert?


Gysi antwortet offen und ehrlich, wie es seine Art ist, manchmal mit einem Schmunzeln, wie aus dem Text abzulesen ist, als auch mit gehöriger Selbstkritik. Unumwunden bekennt er, dass noch längst nicht Ziele der Linken erreicht sind, obwohl durch den Einzug in den Bundestag das Ansehen und die Akzeptanz der Partei Die Linke enorm zugenommen habe. Was nicht heißen soll, dass sie bereits genügend Durchschlagskraft besitze. Nur zu oft komme Kritik von ideologischen Mitstreitern wie von Sympathisanten und internationalen linken Kräften, es fehle eine klare politische Orientierung, die nicht so sehr auf Anbiederung beim Kapital und marktkonformen Politikern aus ist, sondern auf eine eigenständige Alternative zum gegenwärtigen Kapitalismus.


Auf die Frage Stephan Hebels nach den Motiven des Interviewpartners, weshalb er wegen allgemeiner Skepsis gegenüber dem Staat DDR nicht in den Westen abgehauen sei, führt der Politiker und loyale DDR-Bürger lediglich drei Gründe an: Die antifaschistische Ausrichtung der DDR, die nötige Fürsorge für seinen Sohn sowie seine enge Einbindung in die Rechtsorgane der DDR. Weshalb Gregor Gysi dabei die besonders antikapitalistische Ausrichtung der Politik der DDR, das eigentliche „Verbrechen am Kapital“, wie bürgerliche Kreise wiederholt gejammert haben, als persönliche politische Grundhaltung außen vor gelassen hat, möge möglicherweise in seinen Memoiren, die er noch schreiben wolle, an den Tag treten.

 
Wer will das bestreiten: Der Wunsch, auch den Mittelstand im Westen Deutschlands mit ins Boot zu holen und für linke Politik zu erwärmen, spielte der Spaltung der Linken und deren Abkehr von grundsätzlichen Positionen in die Hände. Man stelle sich vor, aufgrund vieler Unfälle auf den Straßen wolle man die zwingende Straßenverkehrsordnung abschaffen. Auch die wissenschaftliche Weltanschauung der Klassiker des Marxismus-Leninismus biete kein Szenario für gesellschaftliche Unfälle, es sei denn, man fährt blind und lediglich profitgierig durch die Lande. Schließlich hat die Lehre der Klassiker noch nie ein Dogma dargestellt. Und niemals hat jemand behauptet, jegliche Widersprüche im Sozialismus seien mit der Herrschaft des Volkes sozusagen vom Tisch. Im Gegenteil – es seien Zweifel am richtigen Weg, an der Methode des Vorgehens, also demokratische Mitbestimmung haushoch gefragt.


Darin mögen auch die Gründe liegen, dass der anerkannte Politiker die Werte der DDR-Gesellschaft u.a. auf Kinderferienlager und soziale und kulturelle kluge Bedingungen reduziert. DDR-Bürger mit eigenen Erfahrungen würden zum Beispiel die Bemerkung „diktatorischer Sozialstaat“ nicht ohne Widerspruch hinnehmen. Übrigens schade, dass der Autor Stephan Hebel keinen Gedanken daran verschwendet, dass man aus dem Tiefschlaf in Deutschland nur herauskomme, wenn auch die Geschichte und die Existenz der DDR gebührend wissenschaftlich und seriös analysiert würden. Geschichtsaufarbeitung ohne Häme, sondern mit Hochachtung für das Volk der DDR – ohne das gibt es halt keine Zukunft, keinen demokratischen Sozialismus.


Stephan Hebel ist zu danken, im Interview keine noch so widersprüchlichen Aussagen unter den Tisch gekehrt zu haben. Einerseits wird gemeinsam festgestellt, der Profit herrsche über allem, die Linke habe den Vorzug, komplex zu denken, ernster müsse man auch in Europa die soziale Frage nehmen, man solle mehr darüber nachdenken, was der demokratische Sozialismus sein könnte. Natürlich sei die Friedensfrage sehr wichtig. Er, Gregor Gysi, habe das System in der DDR als Ganzes nie in Frage gestellt. Der Kalte Krieg der CDU/CSU gegen die Linke sei nicht mehr zeitgemäß. Die Bundeskanzlerin habe kein Konzept für Europa und für die Weltpolitik. Gysi sei in die Politik gegangen, um gesellschaftliche Veränderungen zu erleben. Es brodelt in der Bevölkerung, man müsse „abwarten und vorbereitet“, gegenüber den USA nicht so hasenfüßig sein.


Das sind Positionslichter. Sie drohen allerdings zu erlöschen, liest man folgende sehr subjektive Äußerungen des Interviewpartners, die nicht jeder nachvollziehen würde, auch ich nicht. Er meint, sich vornehmlich einer Fremdregulierung des Lebens in der DDR zu erinnern. Er sei allergisch gegen politische Ausgrenzung (nachvollziehbar!), gegen Parteiverfahren (die gibt es überall!), gegen bestimmte harte Formen. Das könne allerdings in einer „weniger autoritären Struktur“ auch ein Problem werden. (S.128) Was die Wirtschaft betreffe, so plädiere er für kleinere Konzerne. Es herrsche in der Politik Demokratie (?), in der Wirtschaft aber kaum. Und dann plötzlich dieser Satz von Gregor Gysi: „Wenn die Wirtschaft regiert, ist das auch undemokratisch“. Er wolle eine plurale Partei und wolle nie mehr eine „Einheit und Reinheit der Partei“. Schließlich sein sehr persönliches Bekenntnis auf Seite 12 im Vorwort: „Ein Revolutionär war Gregor Gysi nie, und er macht daraus keinen Hehl.“


Das Letztere war auf Grund der bisherigen Bekenntnisse des Gregor Gysi – ob in den Medien oder in Talk Shows – auch nicht zu erwarten. Insgesamt stellt das Buch „Ausstieg links?“ eine interessante Lektüre dar, wenn nicht sogar ein wichtiges Zeitdokument, die Geschichte der SED/PDS und der Linken und die Leitlinien ihrer ideologischen Ansichten und auch Versäumnisse zu verdeutlichen. Es ist ein Lernbuch über eine Zeit des Umbruchs zur Rückkehr des Kapitalismus auf gesamtdeutschem Boden. (Leider!)


Wenn Autor und Interviewpartner auch sehr links nach vorne denken, sie bleiben beide in der Illusion eines friedlichen Wandels des Kapitalismus hin zu einer sozialistischen Gesellschaft (Transformation) stecken, was desto mehr eine Vereinigung aller linken Kräfte in der BRD geradezu herausfordert. So stellte Patrik Köbele auf dem 21. Parteitag der DKP fest: “Die Existenz einer Linksfraktion im Bundestag sei »gut«. Sie sei dort die einzige Gruppierung, die sich meist noch den Kriegseinsätzen des deutschen Imperialismus beziehungsweise der NATO entgegenstelle. Gleichzeitig gebe es Kräfte bis in den Bundesvorstand und die Fraktion hinein, »die nicht nur schwanken, sondern die sich öfter auf die Seite der Kriegskräfte drängeln wollen«. Die DKP habe keine Patentrezepte, wie der Marsch des Imperialismus in die Barbarei zu stoppen sei. Ohne die Analyse und Beiträge von Kommunistinnen und Kommunisten werde es aber keine erfolgreichen Konzepte geben. (junge Welt vom 16.11.2015)


Der eingangs erwähnte Albtraum? Auch im vereinzelten Wachzustand bleibt alles beim Alten. Geht der Tiefschlaf trotz allem weiter? Die Wende lässt auf sich warten. Noch!


Stephan Hebel: „Gregor Gysi - Ausstieg links? Eine Bilanz“
Broschiert: 224 Seiten, Verlag: Westend (5. Oktober 2015),
ISBN-10: 3864891167, ISBN-13: 978-3864891168.
Weitere Informationen: www.westendverlag.de
Leseprobe

Hinweis: Die Inhalte der Kolumne geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen. Erstveröffentlichung dieser Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung.


Abbildungsnachweis:
Header: Detail vom Buchumschlag
Buchumschalg. Westend Verlag

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