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Vincis Artaserse auf DVD

Glaubt man der Legende, starb Leonardo Vinci, der italienische Barockkomponist (1690-1730), durchaus opernreif auf dem Höhepunkt seiner Karriere in Neapel: Eine Tasse vergifteter Trinkschokolade soll im Spiel gewesen sein, Verwandte einer adeligen Liebschaft des Tonsetzers sollen den Lehrer Pergolesis und Amtsnachfolger Scarlattis an der königlichen Hofkapelle damit aus dem Verkehr gezogen haben, nur wenige Wochen nach der triumphalen Uraufführung seiner Oper „Artaserse“, die er zum Karneval 1730 in Rom auf die Bühne gebracht hatte.

In Rom durften – kirchliches Verbot – keine Frauen auf der Opernbühne singen, es war die Hochzeit der Kastraten, deren beste damals einen Hype auslösten wie einst ein Pavarotti oder heute eine Netrebko. Kastraten in den vatikanischen Klangkörpern zu beschäftigen wurde erst 1903 endgültig untersagt, heute singen dort neben Sängerknaben auch Frauen. Und Alt- und Sopranrollen werden in Barockopern, wenn’s einigermaßen historisch informiert zugehen soll, von Countertenören übernommen.

ArtaserseVincis letzte Oper „Artaserse“ nach einem später noch mehr als 40-mal vertonten Libretto seines Freundes Pietro Metastasio bietet extrem anspruchsvolle Rollen für gleich fünf von ihnen, was jedem künstlerischen Betriebsbüro schlaflose Nächte bereitet und in höchster Qualität sicher nur bei Ausnahmeproduktionen realisiert werden kann. So wie in jener, die im Herbst 2012 an der Opéra national de Lorraine auf die Bühne gestellt wurde und die dann auf Tour ging. Mit Philippe Jaroussky, Franco Fagioli, Max Emanuel Cencic, Valer Barna-Sabadus und Yuriy Mynenko ging dort die Crème der Counter-Szene gemeinsam an den Start.

Auf DVD ist diese großartige Produktion jetzt in bestechender Schönheit zu bewundern. Von Silviu Purcarete mit erheblichem Kostümprunk in Szene gesetzt. Die Herren, die die Damen spielen, gleiten in Reifröcken und grellbunt-pfauenhaftem Gefieder durch die Kulissen (oft sind es Projektionen), die Herren in Männerrollen schwitzen unter ebenso geckenhaft-gewaltigen Barock-Perücken und Fantasy-Kopfbedeckungen in Kostümen, die auf jedem venezianischen Karneval Hauptrollen übernehmen könnten. Alle Gesichter sind weiß geschminkt und mit heftigem Rouge und Lippenstift gestylt, ohne dass es tuntig wirkte. Purcarete spielt souverän mit vertauschten Geschlechterrollen – Männer singen Frauenrollen, Männer singen mit hphen Stimmen auch Männerrollen. Er gestaltet das mit Augenzwinkern und inszeniert schon den Übergang in diese fremdartige Kostümwelt, in dem er während der Ouvertüre die Verwandlung der Protagonisten von palavernden Sängern in die Traumgeschöpfe der Opernbühne sichtbar macht – genau wie die Videoaufnahme immer wieder Einblicke in das Treiben backstage ermöglicht.

Ein Traumspiel aus der persischen Frühgeschichte, Artaxerxes muss sich, nachdem sein Vater Xerxes vom Berater Artabano ermordet wurde, auf einer politischen und emotionalen Achterbahn behaupten: Ist Arbace, Artabanos Sohn, noch immer sein Freund oder will er selbst König werden? Wie wird er mit der schönen Semira zusammenkommen? Wie kann der mörderisch intrigante Arbano ausgeschaltet werden? Genug Wirrungen also für fast dreieinhalb Stunden Barock-Vergnügen.

Nun wäre es übertrieben, Vincis Oper als gespickt mit Ohrwürmern zu bezeichnen. Er ist ein Meister angenehmer Begleitung, die – so gut akzentuiert und präsent wie hier durch das Concerto Köln unter dem anfeuernden und aufregenden Präzisionsdirigat von Diego Fasolis – durchaus hochdramatische Gipfel erklimmen oder auf gerührten Taschentucheinsatz spekulieren kann. Erinnern wird man davon allerdings wenig – diese Musik bietet vor allem die Chance, sich ganz auf das Feuerwerk der großen Counterstimmen zu konzentrieren und ihre Unterschiede in Timbre und Charakter zu studieren.

Die zentrale Traumrolle hat Vinci für den Artaserse-Freund Arbace geschrieben – gesungen damals vom Star-Kastraten Carestini, dem er ganze sieben Arien auf den Leib schrieb. Glanzstücke an Virtuosität und Ausdrucksstärke, mit unfassbaren Koloraturstrecken, frappierenden Trillern, weiten Spannungsbögen, enormen Höhen – hier brillant gesungen von Franco Fagioli, dessen volle, zupackende Stimme sich durchaus mit der einer Cecilia Bartoli vergleichen lässt.

Philippe Jarousskys Rolle als Artaserse bleibt dagegen dramatisch eher blass, umso deutlicher kann er seine Stärken ausspielen: die strahlende, in der Höhe manchmal fast überirdisch klingende Stimme und seine ultraklare Artikulation, mit der er in den Rezitativen singen „spricht“ und mit feinsten Nunacen spielt, um ein Maximum an Ausdruck zu erzielen.
Seine geliebte Semira gestaltet der junge Valer Barna-Sabadus mit einem stimmtechnisch entzückend lieblichen Sopran, der glasklar, dabei aber immer weich, warm und sanft tönt.

Max Emanuel Cencic singt die intrigante Arbace-Freundin Mandane, ebenfalls eine Primadonnen-Rolle von hohen Graden, im Charakter kräftig und sehr selbstbewusst angelegt – ein Mann, der eine Frauenrolle mit Mezzo-Timbre singt, die männlicher daherkommt als die meisten Männerrollen der Oper.
Den vielleicht traditionellsten Countertenor-Klang bietet Yuriy Mynenko als Megabise, eine gut strukturierte Stimme von dunkler Färbung.

Bösewicht Artabano wird gesungen vom einzigen „normalen“ Tenor – der im Vergleich zu den Counterkollegen schon ordentlich tief anmutet. Gesungen wird er vom jungen Spanier Juan Sancho, der ihm Profil und Kanten verleiht und der den beweglichen höheren Stimmcharakteren in Sachen Koloratursicherheit in nichts nachsteht.

Große Kunst und androgynes Vergnügen im mehrdeutigen Spiel mit Rollenerwartungen, die immer wieder durchbrochen werden – ein elektronischer Opernabend von hohem Genussfaktor. Frauen kommen in der Inszenierung übrigens auch vor – als Statisten.

Leonardo Vinci: Artaserse. 2 DVDs, Erato # 46323234

 


Weitere Youtube-Links:
15 Minuten aus dem 3. Akt mit Arbace (Franco Fagioli) und Artaserse (Philippe Jaroussky)


Fotonachweis: © Parnassus ARTS Productions, Baden/Österreich

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