CDs KlassikKompass
Kopf-Hörer 14: Atmosphärische Musik, die Stimmungen nachspürt und Gefühle greifbar macht

Christiane Kargs „Parfum“ mit französischen Orchesterliedern, Alexander Krichel mit Ravels „Miroirs“, Mendelssohns Klaviertrios 1 & 2 in einer großartigen Interpretation des Trios Fischer, Müller-Schott, Gilad. Eine Reise durch die Aggregatzustände der Liebe mit Sabine Devieilhe, und Chopin-Werke für Klavier und Orchester mit Jan Lisiecki.

Karg Parfum CoverChristiane Karg: Parfum. Jeder Ton auf dieser CD ist ein Geschenk. Christiane Karg kultiviert in französischen Orchesterliedern die warmen und dunkleren Goldtöne ihres noblen Luxus-Soprans und gestaltet faszinierende atmosphärisch dichte Mikrokosmen, die manchmal so zart daherduften wie die Ahnung eines raffinierten Parfums, manchmal einen exaltierten Aufbruch evozieren. Die bekennende Lyrik-Liebhaberin hat Gedichte von Baudelaire, Verlaine, Tristan Klingsor, Victor Hugo und Leconte de Lisle ausgewählt – vertont von Ravel, Debussy, dem jungen Benjamin Britten, von Charles Koechlin und Henri Duparc. Keine schlichten Erzählungen, sondern verhaltene Leidenschaften, dezente Erotik, Liebesleid, eingedunkelte Abendstimmungen, Melancholie und Orientfaszination. Christiane Karg lässt den Reichtum ihrer Stimme an Farbenvielfalt und Klangnuancen aufblühen, getragen von einer ganzen Kollektion edler Klangteppiche, die die Bamberger Symphoniker unter David Afkam für sie ausbreiten. Stimmungen, kaum fassbares Nachklingen manchmal nur, fast schon verflogen. Mit dieser großartigen CD sichert sich Christiane Karg definitiv einen Platz ganz weit vorn in der Spitzengruppe deutscher Liedsängerinnen.

Christiane Karg: Parfum
Mit den Bamberger Symphonikern unter David Akham.
CD Berlin Classics
0300832BC.
YouTube-Video: Christiane Karg - Parfum (Trailer)



Krichel Miroirs CoverAlexander Krichel: Ravel – Miroirs. Fantastische Bilder im Kopf durch puren Klang lebendig werden zu lassen, das schafft auch der junge Hamburger Pianist Alexander Krichel. Für seine vierte CD hat er drei Klavierzyklen von Maurice Ravel aufgenommen, entstanden zwischen 1904 und 1917: den neoklassizistischen „Le tombeau de Couperin“, die „Miroirs“ und „Gaspard de la nuit“. Die fingerbrecherisch virtuose Technik, besonders im letzteren Werk, ist bei Krichel niemals pianistischer Selbstzweck, sondern sie ist seine reich bestückte Farbenpalette, mit denen er Stimmungen und Gefühle malt – freudige und Schauer erregende, in den Kontrasten weit gespannt.
Ist beim „Tombeau“ jeder Satz einem im Krieg gefallenen Freund gewidmet, so holen die „Miroirs“ kleine Bilder vors innere Auge des Zuhörers. Nachtfalter, traurige Vögel oder das Tal der Glocken – von Ravel so exakt gezeichnet, dass sich die Bilderwelten ganz plastisch öffnen.
Dunkel raunende Gedichte sind die Grundlage für die drei musikalischen Fantasiestücke von „Gaspard de la nuit“ – sie erzählen von Ondine, der unglücklichen Meerjungfrau, von einem Galgen und den Gehenkten, und von Scarbo, einem skurrilen Zwerg. Alexander Krichel, 2013 als Nachwuchskünstler des Jahres mit dem ECHO Klassik ausgezeichnet, zeichnet das mit den 1001 Nuancen eines Anschlags, der sich nie selbst genügt, sondern immer, selbst bei den wildesten Schwierigkeiten, den Ausdruck, die exakte emotionale Aufladung jedes einzelnen Tons findet. Er hat dafür, so erzählte er dem NDR, „die Orchesterversionen der Klavierstücke studiert, die Ravel selbst instrumentiert hatte, um genauer zu verstehen, wie der Komponist sich den Klang wünschte.“

Miroirs – Ravel Piano Works
Alexander Krichel, Klavier.
CD Sony Classics
8898 5377 642
YouTube-Video: Alexander Krichel spielt Ravel



Mendelssohn Piano Trios CoverMendelssohn: Piano Trios Nos. 1 & 2. Wenn sich drei junge energiegeladene Top-Künstler wie Julia Fischer (Violine), Daniel Müller-Schott (Violoncello) und Jonathan Gilad (Piano) zusammentun, um für die Aufnahmequalitätsfetischisten von Pentatone Klavier-Trios von Mendelssohn aufzunehmen, ist das Ergebnis sicher keines, das man achselzuckend beiseitelegt. Diese Aufnahme ist aber weit mehr, sie ist geeignet, andere aus dem Fundus zu verdrängen. Die Musiker, alle in ihren 30ern und damit im besten Mendelssohn-Alter, spielen die beiden Kammermusik-Hits mit Feuer, frisch wie bei der Uraufführung, sie packen hinein, was der Ausdruckskanon der Romantik fordert: sehnsüchtige Melodien, verträumte, elfenhaft leichte, aber auch sehr innerliche langsame Sätze, stürmende dunkle Wolken und vital dahineilende Scherzi.
Die Unmittelbarkeit des Spiels und des genauen, immer aber organischen Zusammenspiels wird unterstützt von der Pentatone-Aufnahmetechnik. Bei Wiedergabe als SACD sitzt man ganz dicht dran an den Instrumenten, hört die Individualität jedes der drei Musiker und der instrumentspezifischen Klangerzeugung in großer Klarheit und Transparenz und in einer unerhörten dynamischen Breite. Das packt und vermittelt ein Erlebnis, das wohl nur noch getoppt würde, wenn man es selbst spielen könnte. Erfrischende, verzaubernde Leidenschaft und Freude an der Musik – mehr geht nicht!

Mendelssohn-Bartholdy: Piano-Trios Nos. 1 & 2
Julia Fischer (Violine), Daniel Müller-Schott (Cello), Jonathan Gilad (Piano)
SACD Pentatone
PTC 5186 609



Devieilhe Rameau CoverSabine Devieilhe: Rameau – Le grand theatre de l’amour. Überwiegend sind es neue Aufnahmen, die im Kopf-Hörer vorgestellt werden. Manchmal aber drängt sich eine ältere Aufnahme dazwischen, zum Beispiel, wenn sie im Praxistest unabweisbare Ohrwurm-Qualitäten beweist. So wie die süchtig machende Rameau-CD des Ensembles Les Ambassadeurs, ihres Leiter Alexis Kossenko und der zauberhaften Sopranistin Sabine Devieilhe aus dem Jahr 2013.
Kossenko hat dieses Projekt losgetreten, indem er aus Werken des Bach-Zeitgenossen Jean-Philippe Rameau eine kleine neue Oper kompilierte, die einer von Amor getriebenen jungen Frau nachspürt. Ob das nun klappt oder nicht – es ist ein wunderbarer Vorwand, in Rameaus Oeuvre Rosinen zu picken und in den Instrumentalstücken die Kunst des Komponisten, viele Stimmen prononciert gegeneinander antreten zu lassen, komplex verflochtene Dissonanzen und Vorhalte auszukosten, große Tableaus und intime Szenen auszumalen und den Emotionen der fiktiven Hauptfigur allen Raum zu geben.
Dazu passt prächtig der koloratursichere Sopran Sabine Devieilhe, mit sparsamem Vibrato in ihrer fast instrumental klar geführten Stimme, hell und frisch, zupackend. Drama und Schmerz, Sehnsucht und Liebe erheben sich über dem Orchester, und doch singt sie, als sei ihre Stimme nur ein weiteres, ein besonderes unter den Orchesterinstrumenten.
Die Rosinen stammen aus Rameaus erster Oper von 1733, „Hippolyte et Aricie“, ein besonders hartnäckiger Ohrwurm ist das „Forêts paisibles“ aus „Les Indes galantes“, und neben „Platée“ und „Castor et Pollux“ aus etlichen anderen Opern. Viele Entdeckungen und einige Erstaufnahmen – aber auch die berühmte „Air de la Folie“ aus „Platée“, in der die Sängerin zwischen Singen und Lachen nahtlos wechselt, ein hinreißendes Kabinettstückchen. Wir verneigen uns vor dem Erfindungsreichtum des Komponisten und verstehen, warum ihn der französische König Ludwig XV. adelte und zum Kabinettkomponisten erhob. Man sollte viel mehr Rameau hören. „Forêts paisibles“ zum Beispiel...

Rameau: Le grand theatre de l’amour
Sabine Devieilhe, Sopran, und Les Ambassadeurs unter Alexis Kossenko
CD Erato
0825 6463 72843.
YouTube-Video: RAMEAU Air de la Folie / Sabine Devieilhe & Les Ambassadeurs, dir Alexis Kossenko



Lisiecki Chopin CoverJan Lisiecki: Chopin – Works for Piano & Orchestra. Zwischen 1830 und 1834 entstanden die Chopin-Werke für Klavier und Orchester, die Jan Lisiecki, der junge Kanadier aus polnischer Familie, hier vorlegt. Meist in ihrer Klavier-solo-Fassung bekannt, könnten sie unter den Begriffen Eleganz und Balance verstanden werden – treibende Kraft ist das Klavier, von Lisiecki und Krzysztof Urbanski und dem NDR Elbphilharmonie Orchester elegant in der Waage gehalten. Sie zeigen den überbordenden Erfindungsreichtum Chopins wie in den Variationen über Mozarts „Là ci darem la mano“ und sind verbunden mit seinen polnischen Wurzeln wie in der Grande Polonaise brillante, dem Rondo à la Krakowiak oder der Fantasie über polnische Volkslieder. Zwischenstationen auf dem Weg zur Sensitivität der späteren Jahre, so wie sie sich auf dieser CD im Andante vor der Grande Polonaise dann findet, dem spätesten Stück dieser Auswahl, oder im orchesterfreien Nocturne cis-Moll, 1830 geschrieben und ein frühes Zeugnis des reifen Chopin-Stils.
Lisiecki, 22, spielt das alles hochvirtuos, dabei unaufgeregt, fein ziseliert und höchst elegant. Exakt passend dazu die dezenten Orchesterparts, die das NDR Elbphilharmonie Orchester unter Urbanski beiträgt und die sicher niemand vermisst, wenn die Werke mal vom Solopiano gespielt werden. Apropos Elbphilharmonie: auch wenn die auf Fotos im Booklet auftaucht – aufgenommen wurde die CD vor ihrer Eröffnung, im Rolf-Liebermann-Studio des NDR. Was sie nicht weniger anhörbar macht.

Chopin: Works for Piano & Orchestra
Jan Lisiecki, NDR Elbphilharmonie Orchester, Leitung. Krzyszof Urbánski
CD Deutsche Grammophon
479 8824
YouTube-Video: Jan Lisiecki - Chopin: Works for Piano & Orchestra (Trailer)



Abbildungsnachweis:
CD-Cover