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Niklas Schmidt spielt die Cello-Suiten von Bach

Niklas Schmidt, Hamburger Cello-Professor und Motor des International Mendelssohn Festivals Mitte September, hat ein Opus magnum vollendet: Seit kurzem ist die zweite CD seiner Aufnahme der Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach erhältlich – eine verblüffend elegante Interpretation von hinreißender Leichtigkeit und Transparenz bei großer musikalischer Tiefe. Und eine sehr persönliche Deutung, die zwischen den Einspielungen der großen Meister wie Casals, Fournier und Rostropowitsch bestehen kann.

Dass Niklas Schmidt heute wieder Cello spielt, ist nicht selbstverständlich. 1997, nach 18 Jahren internationaler Konzert- und Aufnahmetätigkeit im „Trio Fontenay“ beendete er zunächst seine Karriere als Cellist, gab sein kostbares Instrument an den Münchener Leihgeber zurück und registrierte erstaunt, dass er sich befreit fühlte. „Das ist einfach so gekommen, es war kein Plan dahinter, und ich hatte ohne Cello auch keine schlechte Zeit. 18 Jahre Trio waren genug, immer voll beschäftigt, ständig auf Reisen, 40 CD-Aufnahmen, und dann fängt man an, Sachen zum zweiten Mal aufzunehmen... Außerdem hatte ich andere alte Gruppen gesehen – und das gefiel mir oft nicht, wie man da so miteinander musiziert, miteinander umgeht und reist. Und ich fragte mich: Willst du das fürs ganze Leben, unglücklich werden und frustriert?“

Er will einfach etwas Anderes machen, ein Lebensabschnitt ist vorbei. Wenn man ihn heute nach seinem Beruf fragt, sagt er wieder: Cellist – und meint Professor für Kammermusik und Violoncello, seit 1987 an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg.

2006 ist es dann doch passiert, nach zehn Jahren Enthaltsamkeit. Eine Anfrage des Auryn Quartett reizte ihn, „ich musste nur sechs Tage üben, dann ging alles wieder. Nur tat mir erstmal jeder Muskel höllisch weh, auch die, von denen man gar nicht wusste. Wie anstrengend das ist, merkt man erst, wenn man mal nicht spielt.“ Seither spielt er wieder jeden Tag und ist ganz glücklich – der Grundstein ist gelegt für die Aufnahme der Bach-Suiten.
Ein Cello von hoher Qualität ist auch bald wieder zur Hand, ein wohlhabender Hamburger Freund schafft es für ihn an. „Ich habe mir in London viele Instrumente angeschaut, von Stradivari bis sonst was. Da geht es um enorme Summen. „Aber dann war es Liebe auf den ersten Blick – ein Rogeri-Cello gebaut im Jahr 1700 in Brescia. Und es dauerte noch mal fünf, sechs Jahre, bis ich es in allen Situationen gut kennen gelernt hatte.“

Liebe auf den ersten Blick war es auch, was ihn im Alter von acht Jahren zum Cellisten werden ließ. „Mein Vater war Arzt und spielte sehr schön Geige, und ein Cousin in Berlin sehr schön Cello. Eines Tages spielte er darauf pizzicato, die gezupften Töne haben mich auf der Stelle verzaubert – das wollte ich auch können.“ Und so wurde es dieses im Alltag etwas unpraktische Instrument, für das man im Flieger immer ein zweites Ticket braucht.

Das Cello war schon da, als Bach seine Suiten schrieb
Nun aber Bachs Cello-Suiten. Der Übergang fällt Niklas Schmidt leicht: Man müsse sich nur mal klarmachen, dass sein Cello schon einige Zeit da war, als Bach seine Suiten für Cello geschrieben hat. Es war die Zeit des Übergangs, in der man anfing, das Instrument zwischen die Knie zu klemmen und es nicht mehr um den Hals gehängt quer vor der Brust zu spielen. „Wenn man sich vorstellt, wo mein Instrument überall in den Jahrhunderten seither schon war, wie viele Kriege es überlebt hat, welchem Klima es ausgesetzt war...“

Niklas Schmidt spielt die Cello-Suiten von Bach 1Die Aufnahme der Cello-Suiten begann er, um einem Freund zum 80. eine Freude zu machen. 2014 erschien der erste Teil mit den Suiten 1, 3 und 6, gerade eben der zweite mit den Nummern 2, 4 und 5. Jede aufgenommen als Solitär an zwei Tagen – eine in der Friedrich-Ebert-Halle in Harburg, die anderen in der Andreaskirche in Berlin-Wannsee, wohin er kam, weil er dort die perfekte Akustik für die Solowerke fand – „Stein und Holz, nicht zuviel und nicht zuwenig Hall, ein schöner weicher Klang“.
Genau der richtige Ort für die Cello-Suiten. Jene sechs Folgen von jeweils Sätzen mit dem immer gleichen Muster Prélude – Allemande – Courante – Sarabande und am Ende eine Gigue. An der fünften Stelle wechseln die Bezeichnungen: Da gibt es das Menuett, die Gavotte oder eine Bourrée. Schon zu Bachs Zeiten waren das höfische Tänze, die ihre Glanzzeiten hinter sich hatten und die zum kreativen Umgang geradezu einluden. Niemand weiß, für wen und zu welchem Zweck Bach die Cello-Suiten geschrieben hat. Waren es anspruchsvolle Etüden, die den Kreis der cellistischen Fähigkeiten ausschreiten, oder Stücke für intime Konzerte? Für welches Instrument genau schrieb er sie, wie viele Saiten hatte es wohl? Es gibt nicht einmal eine Handschrift des Komponisten, nur etliche Abschriften, darunter eine von Maria Magdalena Bachs Hand.
Niklas Schmidt spielt die Cello-Suiten von Bach Cover 2Auch das Lebensgefühl, das diese Musik ausdrückt, ist weitgehend vergessen. Man müsste es rekonstruieren. Aber wie geht man dann als Cellist an diese Stücke heran? Niklas Schmidt sieht eine große Freiheit für den Künstler: „Bei den Bach-Suiten begleitet man sich ganz allein, da kann ich mit mir selber ausmachen, wie ich das machen will.“ Er sucht nicht unbedingt einen wissenschaftlich untermauerten Interpretationsstil, es soll persönlich schön und wahrhaftig sein: „Wenn man sich ein bisschen drauf verlassen kann, was man das ganze Leben gehört und getan hat, dass man schon eine Idee davon hat, dass es in sich logisch wirkt, was man tut, dann ist es am Ende gar nicht so wichtig, ob es eine Zweier- oder Dreierbindung ist, die man spielt – wenn der nur Charakter getroffen wird.“ Heute, sagt er, sei so etwas schwierig geworden, weil das individuelle Bach-Spiel gar nicht so interessiere, eher heiße es: Die Forschung sagt, man macht das heute so oder so. „Das wird dann vorauseilend erfüllt, und dabei gehen viele eigene Wege verloren. Man muss nicht alles im Kopf haben, sämtliche Alte-Musik-Traditionen, die Forschungen dazu und was andere machen. Das ist eine enorme Vorbelastung, und ich will es natürlich spielen, nicht vorbelastet.“

Ganz leichte Spürchen von Tanzcharakter
Und das Lebensgefühl, das etwa aus einer Allemande spricht? Sucht man das von damals, oder sagt man: Das ist doch Musik für heutige Ohren? „Das ist ne Mischung – die ganzen Allemanden, das sind ja gar keine Allemanden. Der alte Mattheson hat mal gesagt: Es gibt zwei Arten Allemanden: die für den Himmel und die auf Erden, welche zum Singen und welche zum Tanzen. Bei Bach – bis auf die Dritte – sind sie alle gesungene, lyrisch, schön, nur ganz leichte Spürchen von Tanzcharakter. Die erste ist so lyrisch und schön, da spürt man schon das Lebensgefühl heraus. Aber ein deutscher Tanz ist es so gar nicht mehr. Das ist vielleicht die Dritte, die hat so einen rumpeligen Rhythmus. Aber die sechste, das ist eines der lyrischsten Bach-Werke überhaupt...“
Wie übt man das? „Man braucht die Beschäftigung mit den Stücken und mit der Zeit, in der sie entstanden sind. Und auch bei einem selbst muss es die richtige Zeit sein, und sehr viel Lebenserfahrung. Man hat jeden Tag eine andere Stimmung, und die Stücke klingen danach. Zur richtigen Zeit gehört auch: Zehn Jahre später wäre diese Aufnahme vielleicht auch nicht mehr gegangen, ich bin jetzt 58 und hatte das Gefühl: Jetzt muss es sein.“

Bei der perfekten Interpretation geht es gar nicht um die technische Schwierigkeit, „das ist gar nicht die Herausforderung. Es geht mir um die musikalische Aussage der Stücke, was man in ihnen entdeckt an musikalischen Möglichkeiten. Das verändert sich je nach dem eigenen Alter, je besser man die Musik kennt, desto mehr erkennt man neue harmonische Bezüge, neue Wege. Man lernt, immer neue Harmonien und melodische Linien zu hören – in der sechsten Allemande zum Beispiel eine chromatisch absteigende Linie über zwei Oktaven im Bass. Es braucht ein bestimmtes Tempo – genau das, welches das hörbar macht, man muss es kennen und sich darauf fokussieren. Auch, wenn man die wunderbare Vielstimmigkeit auf den vier Cello-Saiten reproduzieren möchte.“

Die Bach-Suiten liegen auf CDs von Schmidt eigenem Label Fontenay Classics vor, und nun türmt sich langsam die nächste selbstgestellte Aufgabe vor ihm auf: das International Mendelssohn-Festival, das er Mitte September, vom 11. bis 24., in Hamburg veranstaltet. Die Summe vieler Festival-Aktivitäten, die der umtriebige und energiegeladene Cellist schon ins Leben gerufen hat. Die Musikfestspiele Schwäbischer Frühling in Ochsenhausen, den es heute noch gibt, die erste Potsdamer Schlössernacht – „das wäre mir heute zu groß“. In Hamburg leitet er seit 1999 die Kammermusikreihe Fontenay Classics, veranstaltete zwei Schubertiaden und eine Brahmsiade, ist Chef des Internationalen Kammermusikwettbewerbs Hamburg ICMC und des Mendelssohn International Summer School Festivals. Das neue International Mendelssohn-Festival soll etliche dieser Aktivitäten bündeln.

Am liebsten leben in Mendelssohns Zeit
Und warum hat er das Festival nach Mendelssohn benannt? „Die Familie Mendelssohn schwirrte irgendwie schon herum bei meinem Vater, da gab es einen Herrn Mendelssohn, der im Hause ein- und ausging. Ich bin in Prinzip verwandt mit Herrn Mendelssohn, aber viel mehr mit Moses Mendelssohn, dem großen Philosophen der Aufklärung. Dessen Großvater ist mein Ururururgroßvater. Mein Vater war Jude, seine Mutter war Hildegard Meyer Levy, sie gehörte zu einer der großen jüdischen Familien Berlins. Wenn Sie in die Synagoge Oranienburger Straße kommen, da sehen Sie zwei große rote Thora-Vorhänge – das ist meine Familie. Das ist schwer zu erraten, wenn man Schmidt heißt und wenn die Vorhänge von Siegmund und seinem Vater Joel Wolf Meyer stammen. Das waren Vorsteher dieser Synagoge; drei von den Meyers haben Mendelssohns geheiratet, auch der Komponist Giacomo Meyerbeer und der komponierende Musikpädagoge Julius Stern gehören zur Familie.“
Felix Mendelssohns Ansehen leidet bis heute an dem Verbot seiner Musik durch die Nazis. „Ja, er wird unterschätzt, aber überall gespielt. Aber meist nur zuckersüß und weich und viel zu schnell. Wenn man das Tempo ein bisschen reduziert, ist man ganz schnell in einer Bach-Invention in irgendeiner Nebenstimme, aber in einer eigenkomponierten Bach-Invention – das ist das Tolle. Man muss das nur kennen und wissen.“
Niklas Schmidt kann lange über Mendelssohn sprechen, eine Herzensangelegenheit, das spürt man. Aber nicht nur die Musik, auch der respektvolle Umgang Mendelssohns und seiner Komponistenkollegen miteinander fasziniert ihn. Sodass sein Geständnis am Ende unseres Gesprächs gar nicht mehr überrascht: „Wenn ich könnte, möchte ich eigentlich viel lieber in dieser Zeit leben.“

J. S. Bach: Six Suites for unaccompanied Cello
Niklas Schmidt, Violoncello.
2 CDs
Fontenay Classics
FCI 009 und FCI 010

Am 23. April spielt Niklas Schmidt drei der Cello-Suiten in der Kirche am Rockenhof in Hamburg-Volksdorf, Rockenhof 5 (U Volksdorf). 18 Uhr, Eintritt: € 8,- / 5,- (erm.)

Das International Mendelssohn-Festival mit zehn hochkarätigen Konzerten findet statt vom 11. bis 24. September an verschiedenen Orten in Hamburg. Alle Infos unter www.mendelssohn-festival.com


Abbildungsnachweis:
Fontenay Classic
Headerfoto: Privat
2 CD-Cover