CDs KlassikKompass
Kopfhörer 11: Kraftvoller Chopin, feurige Häppchen

Seong-Jin Cho, ein koreanischer Senkrechtstarter, spielt einen bemerkenswerten Chopin. Die Capella de la Torre geht auf eine wunderbar tänzerische Reise durch Europas Renaissance-Musik. Annika Treutler begeistert mit ihrer Mendelssohn-Einspielung. Gautier Capuçon und Frank Bradley überzeugen mit Beethovens Kammermusik für Cello und Klavier. Und Maude Gratton lässt Orgelwerke von Bach im Originalklang einer Silbermann-Orgel von 1737 erstrahlen.

Seong-Jin Cho CoverSeong-Jin Cho. Mit zehn Jahren fing der Südkoreaner an, ernsthaft Klavier zu lernen. 2015, mit nur 21 Jahren, wurde er in Warschau jüngster und erster koreanischer Gewinner des renommierten Chopin-Wettbewerbs. Was Wunder, dass seine Debüt-CD bei der Deutschen Grammophon Chopin präsentiert: das 1. Klavierkonzert, aufgenommen in den Abbey Road Studios, London. Und die vier Balladen, aufgenommen in Hamburg in der Harburger Friedrich-Ebert-Halle. Cho beherrscht entgegen vielen Klischees über asiatische Technik ohne Gefühlstiefe beides: Er setzt leise Momente romantischer Innerlichkeit neben rasende (und rasend schwierige) Läufe, verspielte Passagen neben kraftvolles Drängen. Bemerkenswert seine runde, singende Spielkultur. Natürlich kann er den Flügel noch nicht entfesselt herausfordern wie der energiegeladene Horowitz in den Anfangsjahren seiner Karriere, aber ein Spürchen mehr schwärmerische Wildheit und leidenschaftliche Unberechenbarkeit täte ihm schon gut. Cho setzt auf den schönen Ton und findet viele Gefühlsnuancen, die er mit seinem glasklaren Anschlag sorgfältig ausspielt, ohne sie romantisch zu verwischen. 70 bis 80 Konzerte gibt er inzwischen pro Jahr, erobert sich die berühmten Hallen der Welt und neues Repertoire gleichzeitig. Vielleicht schafft er in Hamburg demnächst den Sprung über die Elbe.

Frederic Chopin: Piano Concerto No.1 / Ballades.
Seong-Jin Cho, Klavier, und das London Symphony Orchestra, Leitung: Gianandrea Noseda.
CD Deutsche Grammophon
479 5941
YouTube-Video: Cho mit Chopins 1. Klavierkonzert beim Wettbewerb in Warschau



Fire Music CoverCapella de la Torre. Zehn Musiker mit historischen Doppelrohrblatt-Instrumenten wie Pommer, Dulzian und Schalmei, dazu Posaune, Blockflöten, Laute und Orgel samt allerlei Schlagwerk – und vier großartige Sänger. So macht sich die 2005 gegründete Capella de la Torre auf ihre neue Rundreise durch europäische Musik des 16. Jahrhunderts. Im vergangenen Jahr bekam sie für „Water Music“ den ECHO Klassik für das „Ensemble des Jahres“. Diesmal sind es 21 antörnende Häppchen – unter den Komponisten Berühmtheiten wie Byrd, Praetorius, Tomás Luis de Victoria, Orlando di Lasso, aber auch etliche Stücke, deren Urheber man nicht kennt. Sie beschäftigen sich unter dem Titel „Fire Music“ mit allem, was brennt, knistert, lodert und verzehrt: die Hölle, die Pfingstflammen, die Feuertiere Salamander und Phönix, Blitz und Sonne, Vulkane, Rauch und natürlich das Feuer zwischen Venus und Mars. Ein gut hörbares Konzeptalbum, nach „Water Music“ das zweite im Quartett der Elemente. Es vereint bekannte Ohrwürmer wie Praetorius’ „Branle de la torche“, sein „Ballet des feus“, die anonyme „Ciaconna di Paradiso e d’Inferno“ oder eine Folia von Diego Ortiz und das anonyme „Ardente sole“ mit unbekannten Preziosen. Katharina Bäuml sorgt als Leiterin für herrlich tanzende und schwebende Rhythmen, für Originalklang-Charme, für dezente Klang-Verführung und eine große Lust auf mehr. Perfekt für Renaissance-Einsteiger.

Fire Music – Infernal Flames and Celestial Blaze.
Capella de la Torre, Leitung: Katharina Bäuml.
deutsche harmonia mundi/Sony Music
8898 5360 302



Treutler - Mendelssohn CoverAnnika Treutler plays Mendelssohn piano works. Beharrlich und mit großer Energie hat sich die junge Pianistin (Jahrgang 1990) nach vorn gespielt, hat in internationalen Wettbewerben etwa in Oslo, Cleveland, München und Montreal Preise gesammelt. Und geht nun auf Eroberungstour durch die großen Konzertsäle. Noch beim kaum bekannten Label Syquali hat sie ein erstes Meisterstück eingespielt: Klavierwerke von Felix Mendelssohn. Ein klug gewähltes Programm, in dem sie die ganze Bandbreite ihres Könnens ausspielen kann. Gleich bei der 3. Klaviersonate von 1827 begeistert der natürliche, ungekünstelte Ton, streng dort, wo Mendelssohn sich an Bachschen Kontrapunkt anlehnt, gefühlstief im romantischen Klangspiel. Treutlers enorme Technik macht mühelos den Blick frei auf die Schönheiten des frühen Werks – das hingetupfte Scherzo des 2. Satzes, das verträumte Andante, der Sommersturm zum Schluss. Dann die „Kinderstücke“, mit Reminiszenzen an Schumann. Das Glanzstück aber sind Mendelssohns Variations sérieuses von 1842. Hier lotet Treutler einen ganzen Kosmos an Emotionen aus. Manche der 17 gefühlsgeladenen Miniaturen lassen der Pianistin dafür nur 20 Sekunden, kompakte, hochvirtuose Herausforderungen, die sie grandios meistert. Die drei Etudes op. 104b werden gern von den ganz Großen des Instruments als Fingerübungen oder Encores genommen. Mit ihren perlenden Arpeggien und rasenden Läufen beider Hände kann Treutler da ohne weiteres mithalten. Zum Schluss noch das vierte Heft der Lieder ohne Worte mit seinem furiosen, harmonisch gefährlich schillernden Abschluss. Empfehlung von kultur-port.de: Das möchten wir bald in der Elbphilharmonie, im feinen Kleinen Saal hören!

Annika Treutler plays Mendelssohn Piano Works.
CD Syquali/harmonia mundi
7640165381700
Hörprobe



Capucon - Beethoven CoverGautier Capuçon / Frank Braley: Beethoven. Sonatas & Variations for Cello & Piano – Mozart hat gar nichts für diese Instrumentenkombination geschrieben, Beethoven fünf Sonaten und drei kleine Variationensätze, das passt auf zwei CDs. Die aber haben es in sich. Die ersten beiden Sonaten op. 5 von 1796 sind noch ganz klar klavierdominiert – im Titel heißt es „pour le Clavecin ou Piano-Forte avec un Violoncelle obligé“. Zweisätzige Werke mit fast symphonisch ausladenden Eingangssätzen, der von Nr. 2 übertrifft mit 20 Minuten sogar den der „Eroica“ an Länge. Und an Wildheit und Ungestüm, zumindest im Klavierpart. Denn auf Augenhöhe begegnen sich beide Instrumentalisten erst in Nr. 3 aus dem Jahr 1808; das Cello wird hier gleichberechtigter Partner des Pianos, in einem Werk voller Schönheit und klassischer Balance. Für mich am packendsten sind die beiden späten Sonaten op. 102, kompromisslose, eigenwillige, konzentrierte und irritierende Kompositionen, die eng verbunden klingen mit den späten Streichquartetten. Das überschäumende Virtuosentum des Klaviers ist erschütternder und anrührender musikalischen Substanz gewichen, die Musik geht unter die Haut, besonders in der 5. Sonate in D-Dur. Gautier (Jahrgang 1981) und sein langjähriger Kammermusikpartner Braley (Jahrgang 1968) spielen klar, blind aufeinander eingeschworen, Gautier mit einem kraftvollen, großen, vielfach nuancierten Reichtum an Klangschönheit über alle Lagen hinweg, bei dem man sich nur manchmal fragt, ob Wut, Verzweiflung und Schmerz, die ja auch in Beethovens Kompositionen enthalten sind, nicht hin und wieder auch rauere Töne erfordern. Unübertroffen aber ist das Adagio con molto sentimento d’affetto, der 2. Satz der 5. Sonate – piano, am Ende ersterbend, oft fast ohne Vibrato gespielt in fahlen Farben, Melancholie pur und der Zauber der Erinnerung an lichtere Zeiten. Mozart hat nichts für Cello und Klavier komponiert, aber Beethoven hat zwei Melodien aus dessen „Zauberflöte“ zur Grundlage von munteren Variationszyklen genommen (und eine weitere von Händel) – perfekt geeignet, um noch einmal die ganze Vielfalt seines Könnens aufzublättern, ein verblüffend heiterer Ausklang nach den beiden späten Sonaten.

Ludwig van Beethoven: Complete Sonatas & Variations for Cello & Piano.
Gautier Capuçon, Cello, und Frank Braley, Klavier.
2 CDs Erato/Warner Classics
0190 2959 1139
YouTube-Video:
Gautier Capuçon & Frank Braley record Beethoven Complete Cello Sonatas


Gratton - Bach CoverBach: Leipzig Organ Works. Orgeln sind Individuen. Gebaut für einen bestimmten Raum, nach dem Geschmack einer bestimmten Zeit, eines Orgelbauers und eines Auftraggebers. Und es ist ein Glück, dass einige dieser Individuen fast unverändert die Zeiten überlebt haben. So wie die Orgel von Gottfried Silbermann im thüringischen Ponitz mit ihren 27 nur sachte sanierten Registern – im wesentlichen aber seit 1737 erhalten als ein Instrument der Bach-Zeit, eine Art Klangdenkmal. Keine gewaltige Orgel, aber eine, auf der jemand wie die junge französische Organistin Maude Gratton, Jahrgang 1983, die mit den Ensembles von Philippe Herreweghe und im Concert Français von Pierre Hantaï spielt, einen feinen, lebendigen Querschnitt durch Bachs Leipziger Orgelschaffen erklingen lassen kann. Ausgesucht hat sie Werke, die – wie das kenntnisreiche Booklet aufzeigt – Bachs Schaffen für seine eigenen virtuosen Orgelkonzerte und nicht dem für Gottesdienste zuzurechnen sind: die gewaltigen Präludien und Fugen in Es-Dur und e-Moll, die vierte Orgelsonate, vier Choralbearbeitungen und die kanonischen Variationen zu „Vom Himmel hoch“. Gratton sucht vor allem die helle, klaren Register aus, die Bachs komplexer Stimmführung scharfe Kontur und Transparenz verleihen. Schade aber, dass nur in zwei der Choralbearbeitungen die besonderen Register der Ponitzer Orgel zu hören sind. Zu oft setzt Gratton für ihr elegantes Spiel auf einen durchgängig glatten, gern auch lauten Klang – dabei hat das Silbermann-Instrument auch intime Zungenregister im Angebot. Die hätten wahrscheinlich sogar Bach, der sonst mit Silbermann in Orgelfragen wie Disposition und Stimmung fast ein Leben lang über Kreuz lag, für den königlich-sächsischen Hof- und Landorgelbauer eingenommen.

J.S. Bach: Leipzig Organ Works.
Maude Gratton an der Silbermannorgel der Friedenskirche in Ponitz.
CD Phi LPH021



Abbildungsnachweis: CD-Cover