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Das Lettische Kunstlied – Egils Siliņš singt „Latvian Songs“

Lettland, so heißt es, wurde durch Musik geboren und erlangte über Gesang seine Freiheit. Die „singende Revolution“ – die 600 km lange singende Menschenkette quer durch das Baltikum – vor der (Wieder-)Gründung der baltischen Staaten und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, steht dafür als Beispiel.

Wer die Musikbegeisterung der baltischen Länder kennt, wer einmal einen Einblick in Lettlands reiches Lieder-Repertoire und die Musiktradition erkennen durfte, der kann diese „Revolution“ noch besser nachvollziehen.

Musik war aber nicht nur Befreiung oder der Inbegriff für Freiheit per se, gerade in der Kombination aus Text und Musik, also im Lied, konnten die lettischen Lyriker und Komponisten all das ausdrücken, was jahrzehntelang als öffentliche Aussage verboten war. Es gab somit immer damit verbunden auch die Literatur und die Musik des Widerstands gegen die Unterdrückung der eigenen Kultur.

Es ist schon erstaunlich, dass erst 100 Jahre nach der ersten Unabhängigkeit Lettlands 1918 und ein Vierteljahrhundert nach der erneuten Staatsgründung sich ein lettisches Label dieser großen Musikgeschichte widmet. „Skani – Sound of Latvia“ (zu dt. Widerhall, Schall) hat diese wunderbare, vielseitige und reichhaltige Aufgabe übernommen. Da ist viel Potential für Jahrzehnte und sie bereichert auch unser Verständnis in Mitteleuropa.

altDas neuste Produkt aus dem Hause „Skani“ ist das Album „Latvian Songs“ mit der fantastischen Bass-Bariton-Stimme von Egils Siliņš sowie der Klavierbegleitung von Māris Skuja, die lettisches Liedgut aus 120 Jahren und von neun Komponisten präsentieren. Und sie tun es, um es vorweg zu sagen, in einer Qualität, die sich international mehr als sehen und hören lassen kann. Das muss man insofern betonen, weil Europas vermeintliche Randbereiche, obwohl sie Einmaliges und Hochqualitatives zu bieten haben, häufig zu langsam oder ungenügend wahrgenommen werden. Da sind dann ein paar wenige Komponisten und Musiker, die der Musikinteressierte so kennt, aber mehr auch nicht. Hier einmal genauer und vor allem intensiver nachzuschauen lohnt sich und „Skani“ wird uns sicherlich dabei helfen!
Egils Siliņš Stimme ist aber nicht nur mit lettischem Liedgut verbunden, sondern auch mit russischer Ausbildung. Der 1961 in Līgatne, östlich von Riga geborene Sänger erhielt u.a. seine Ausbildung an der Lettischen Musikakademie und arbeitete ab 1988 an der Lettischen Nationaloper bevor er 1990 – wie so viele das Land verließ, um an der Oper in Frankfurt/M. als Solist zu arbeiten. Siliņš’ Stimme scheint wie für die lettischen Lieder gemacht, sein Timbre, seine Klangfarbe, die Variation zwischen Weichheit und Wärme zu Kühle und Härte modulieren Inhalte. Er kann unglaublich dunkel modulieren, fast so wie es der Bassist Fjodor Iwanowitsch Schaljapin vermochte, um in nächsten Augenblick seine Stimme mit Leichtigkeit erneut hüpfen zu lassen. Allein aus diesem Grund ist das Album ein besonderes Erlebnis.

Māris Skuja begleitet am Piano. Er, der von 1990 bis 1995 alljährlich Pianist und Begleiter des Belvedere-Gesangswettbewerbs in Wien war. Skuja ist ein gesuchter Konzertbegleiter international renommierter Sänger.

Das Album beginnt mit acht Liedern von Emīls Dārziņš (1875-1910). Der Komponist, Dirigent, Musikkritiker und Pädagoge ist vor allem wegen seines „Melancholischen Walzers“ und der Nähe zu Jean Sibelius bekannt. Seine romantisch-melancholischen Kompositionen sind verknüpft mit dem aufkommenden Nationalbewusstsein jener Zeit. Heute zählt der, bei einem tragischen Eisenbahnunglück ums Leben gekommene Dārziņš zu den beliebtesten Komponisten.

Obwohl erst 1904 geboren ist die Komposition von Jānis Kalniņš (1904-2000) ebenfalls der Romantik verhaftet. Erzählerisch seine Liedkompositionen und stark an Schubert erinnernd. 1948 zog Kalniņš nach Kanada und wurde Organist und Chorleiter an der St Paul's United Church in Fredericton.

Der Komponist und Musikforscher Emilis Jūlis Melngailis ist einer der vielen Letten seiner Generation, die eine künstlerische Ausbildung sowohl in Deutschland (Dresden) als auch in Russland erhielt (St. Petersburg). Während der russischen Revolution komponierte er in Taschkent einige seiner berühmtesten Lieder, zu Texten des lettischen Dichters Janis Rainis. Ab 1920 wirkte Melngailis als Chorleiter in Rīga. In den 1920er- und 1930er-Jahre war er der Hauptdirigent der lettischen Sängerfeste. Insgesamt veröffentlichte er über fünftausend lettische, litauische, kirgisische und jüdische Volksmelodien. Seine „goldenen Blätter“ auf diesem Album sind so schwer und in moll, dass sie die Zweige längst verlassen haben, um dem Weltscherz zu entkommen.

Der Rigaer Domorganist Alfrēds Kalniņš (Vater von Jānis Kalniņš) ist mit zwei Stücken auf der CD vertreten. Ruhig und dahingleitend sind Komposition und Worte. Auch hier findet der Hörer einen gewissen russischen melancholischen Geist in der Komposition.

Jāzeps Vītols, der sich später nach seinem Umzug nach Deutschland Joseph Wihtol nennt, studierte bei Nikolai Rimski-Korsakow am Konservatorium in Sankt Petersburg und blieb dort nach Abschluss als Kompositionsprofessor. Zu seinen Schüler zählte u.a. Sergei Prokofjew. Nach dem Ersten Weltkrieg zog er zurück nach Lettland, um als Dirigent an der Lettischen Nationaloper in Riga zu arbeiten. Ab 1944 lebte er in Schleswig-Holstein. Vītols gilt als Begründer der lettischen Nationalmusik, da er der erste lettische Komponist von Format war. Stilistisch ist er eindeutig der Nationalromantik zuzuordnen. Seine Kompositionen können den Einfluss seines Lehrers Rimski-Korsakow nicht verleugnen. Dies zeigt nicht zuletzt die brillante Orchestrierung. Seine acht Lieder, die hier vorgestellt werden haben alle Elemente von Folklore und konzertanter Dramatik.

Jānis Mediņš, stammt aus einer Musikerfamilie, war Dirigent an der Lettischen Oper und komponierte insbesondere Opern- und Ballettmusik. Er ist wohl einer der wenigen Komponisten dieses Albums, der nicht bei einem namhaften Lehrer studierte und sich seinen Stil selbstständig erarbeiten musste. Gerade seine frühen Werke bis Ende der 1920er-Jahre zeugen von dieser Suche.

Als Sohn eines lettischen Diplomaten stand Tālivaldis Ķeniņš die Welt offen. Er studierte in Grenoble, lernte bei dem hier zuvor erwähnten Joseph Wihtol, brach das Studium nach der sowjetischen Okkupation Lettlands ab, kehrte zurück nach Frankreich und studierte bei Olivier Messiaen. 1949 lebte er für ein paar Jahre in Deutschland bevor er 1951 nach Kanada immigrierte, um in Toronto an der Universität zu unterrichten. Der nordamerikanische Einfluss ist bei seinem Lied über „Das Dorf“ unverkennbar.

Bruno Skulte war Dirigatschüler von Jānis Mediņš. 1944 floh er vor der sowjetischen Besetzung Lettlands nach Deutschland, wo er Orchester in Berlin und Oldenburg leitete. Auf Einladung in die USA blieb er in New York und gründete den lettischen Chor, der bis heute existiert. Bis zu seinem Tod war er Lettland eng verbunden, was sich in seinen Kompositionen niederschlug.

Arvīds Žilinskis, der letzte Komponist dieses Albums blieb zeitlebens in Lettland und wurde besonders für seine Komödien- und Filmkompositionen bekannt. Kein Wunder also, dass sein Lied den Titel „Das Leben eines Schauspielers“ trägt.

Übrigens ist das Begleitheft (in engl. und lettischer Sprache) des Albums sehr ausführlich und informativ.
Latvian Songs
Egils Siliņš, Bassbariton, und Māris Skuja, Klavier
Label: SKANI
EAN: 4751025440130
Total: 66’14

Tracking-List
Emīls Dārziņš (1875-1910)
1. Teici to stundu, to brīdi / Tell Me the Hour, the Moment (2’00)
2. Kad būs astras izraudātas / When All Tears Will Have Been Shed (2’53)
3. Vēl Tu rozes plūc / You Still Pick Roses (2’05)
4. Aizver actiņas un smaidi / Close Your Eyes and Smile (1’49)
5. Sāpju spītes / In Defiance of Pain (2’30)
6. Mana laime / My Happiness (1’26)
7. Kā zagšus / As if by Stealth (1’52)
8. Spāniešu romance / Spanish Romance (3’06)

Jānis Kalniņš (1904-2000)
9. Par katru stundu / For Every Hour (2’14)

Emilis Melngailis (1874-1954)
10. Zeltītās lapas / Golden Leaves (3’18)

Alfrēds Kalniņš (1879-1951)
11. Rudens zieds / Autumn Flower (4’33)
12. Brīnos es… / I Wonder… (4’20)

Jāzeps Vītols (1863-1948)
13. Pie Tava augstā baltā loga / Below You High, White Window (2’09)
14. Baltā bērza šūpolīte / In a White Birch Cradle (2’40)
15. Biķeris miroņu salā / The Gobet on the Isel of the Dead (2’45)
16. Kokļu skaņas / The Sound of Kokles (3’23)
17. Orhidejas sapnis / The Orchid’s Dream (3’22)
18. Aizver actiņas un smaidi / Close Your Eyes and Smile (1’50)
19. Man prātā stāv vēl klusā nakts / I Still Recall That Quiet Night (2’16)
20. Klausies, spulgacīt / Listen, Bright-Eyed Maiden (2’35)

Jānis Mediņš (1880-1966)
21. Aka / The Well (2’02)
22. Glāsts / A Caress (2’31)

Tālivaldis Ķeniņš (1919-2008)
23. Miestiņš / The Village (3’02)

Bruno Skulte (1905-1976)
24. Sapņu zeme / Dreamland (3’08)

Arvīds Žilinskis (1905-1993)
25. Aktiera mūžs / An Actor’s Life (2’34)

YouTube-Video:
Egils Siliņš - Latvian Songs CD promo (Lettisch mit engl. Untertiteln)




Abbildungsnachweis:
Header: Egils Siliņš. Foto: Janis Deinats
CD-Cover

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