Meinung
„Musicking“ – Eugene und die europäische Klassik

Vom 12. bis 16. April diskutierten und musizierten im Nordwesten der USA internationale Kulturgrößen, Nachwuchskünstler und Akademiker über europäische Musik. Schauplatz: der urwüchsig-gepflegte, ökologisch rauch- und abfallfreie, weitläufige und breitflächige Campus der Universität Oregon in Eugene.
Studierende skateboarden, radeln und schlendern über samtweiche, grasgrüne Rasenflächen oder unter schwindelerregend hohen Pinienbäumen und Zedernalleen vorbei an blühenden Büschen und Beeten, hochmodernen Business-Centern mit Solarzellwänden oder dem Campus-eigenen Museum – natürlich, so etwas gibt es hier an Amerikas Westküste!
Vor der filmreifen Kulisse von teils im Kolonialstil, teils als Villen, und teils als funktionale Neubauten individuell errichteten und architektonisch vielfältigen Fakultäts-, Vorlesungs- und Institutsgebäuden tauche ich in die Auftaktveranstaltungen des „Musicking“-Programms ein. Der Begriff „Musicking“ ist – frei nach dem Buchtitel des neuseeländischen Musikforschers Christopher Small als aktives Verb verstanden, übernommen worden. Auf mich warten packende Vorträge, Workshops und Master-Klassen etwa zu Alter, Renaissance- oder Barockmusik. Dazu: lässige, als musikalische Mittagspausen gestaltete „Lunch-Box“-Konzerte sowie originelle Morgenoratorien, Hausmusik im besten Sinn und abendliche Vorführungen.

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Es regnet. Aber ich bin ja in Oregon, und das auch noch im April. In Oregon wird man mit Regenschirm geboren, so wie in London, aber hier trägt man keinen Burberry Trenchcoat, sondern einen Anorak.

Ich laufe durch die Stadt Eugene, auf dem Campus der University of Oregon (UO), einer für amerikanische Verhältnisse mittelalten Universität (gegründet 1876). Die Straßen sind angenehm belebt mit jungen Menschen aus aller Welt, unbekümmert und locker, die sich nicht von den urplötzlich herabfallenden Regenschauern stören lassen. Nicht grundlos ist das Maskottchen dieser Institution ein Enterich, the Oregon Duck, der in der Tat ein „Verwandter“ des weltberühmten Donald Duck ist und dessen Fußabdrücke man hier und da auf den Wegen des Universitätsgeländes findet.

Ich folge den gelben Entenfüßen, laufe an einer Statue vorbei, die einen amerikanischen Pionier darstellt, und komme zum Collier House. Es ist ein gemütliches, altmodisches, schönes Haus mitten auf dem Campus, das wie ein altes Privathaus aussieht und dessen Holzkonstruktion eine fast magische Anziehungskraft auf den Besucher ausübt. Hier ist der Hauptveranstaltungsort besagter Konferenz mit dem Titel „Musicking – Performance, Politics & Personalities“, die der musikwissenschaftliche Lehrstuhl von Professor Marc Vanscheeuwijck an der „School of Music and Dance“ der University of Oregon erstmalig veranstaltet. Nächstes Jahr im Mai soll schon die zweite Auflage folgen. Ganze vier Tage in der idyllischen Natur im Nordwesten Amerikas sind der Musik und der Musikwissenschaft gewidmet.

In diesen vier Tagen ist die Musik der König und es wird musiziert, analysiert, diskutiert und vorgetragen – für die Studierenden und die Öffentlichkeit, mit dem Ziel, uns alle anzuregen und das Interesse an früher klassischer Musik und historischer „performance practice” zu wecken. „Musicking“ ist eine ausgesuchte Veranstaltung. Die Events sind von Vielfältigkeit und Internationalität geprägt und umfassen diverse Kulturen und Disziplinen: Musik, Literatur, Politik, Geschichte, Theorie und Praxis. Für die öffentlichen akademischen Vorträge und musikalischen Vorführungen sind Persönlichkeiten aus der internationalen Gemeinschaft der Wissenschaftler und Künstler geladen.

13. April, 2016. Ich sitze im zentralen „Wohnzimmer“ des Collier House, sozusagen dem Salon von „Musicking“. Gerade findet in der Sektion „Neue Interpretationen romantischer Musik“ ein Vortrag statt über den deutschen Komponisten, Schriftsteller, Publizisten, Kapellmeister dreier Preußenkönige und umtriebigen Geist Johann Friedrich Reichardt, gehalten von Dagmar Reichardt, ihrerseits deutsche Kulturwissenschaftlerin sowie Professorin für Medienindustrie an der Fakultät Internationales Medien- und Kulturmanagement an der Lettischen Kulturakademie in Riga – und väterlicherseits Verwandte des ostdeutschen Komponisten. Dagmar Reichardt führt uns sorgfältig in das Thema Johann Friedrich Reichardt (1752-1814) ein. Das ist gut so, denn dieser Zeitgenosse und Freund Johann Wolfgang Goethes stand Zeit seines Lebens im Schatten des deutschen Dichterfürsten. Reichardts Leben und Laufbahn waren facettenreich und interessant, vielleicht zu breit aufgestellt, transkulturell und fachübergreifend, um ihn einzuordnen. Ein Grund, warum er keine große Bekanntschaft erreichte?

Die Präsentation konzentriert sich auf ein Schlüsselwerk Reichardts, nämlich auf das erste Mignon-Lied der Musikgeschichte, das der gebürtige Königsberger zu Goethes Gedicht „Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh’n...“ in seinem Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795/1796) komponiert hat. Auch andere Werke werden erörtert, zum Beispiel Reichardts Band „Vertraute Briefe aus Paris“ (1804). Ein Wissenschaftler, der während des Vortrags neben mir sitzt – der leitende Professor der Vergleichenden Literaturwissenschaften und der Germanistik der University of Oregon – gesteht mir nach dem Vortrag mit spitzbübischem Grinsen, ihm sei mitten im Vortrag klar geworden, dass er in seiner Jugend als Student der Germanistik an einer kalifornischen Universität in einem Goethe-Seminar schon einmal etwas über Johann Friedrich Reichardt gehört hatte. Sein Professor habe ihm und seinen Kommilitonen Reichardts „Briefe aus Paris“ zum Lesen gegeben und erklärt, der Autor sei ein deutscher Unterstützer der Französischen Revolution gewesen. Reichardt als Politiker.

Alle Vorträge und Diskussionsthemen drehen sich um die europäische Klassik. Mit der italienischen und der deutschen Kultur verbundene Themen liegen vorn. Das amerikanische Publikum interessiert sich brennend für Bach, Biber, Schubert oder Wagner, für Monteverdi, Corelli, Paganini und die Anfänge der italienischen Oper. Alles ist warm und freundlich hier, auch wenn es immer wieder kalt regnet und ich froh bin, dass ich meine Daunenjacke, die ich eigentlich wegen der frühlingshaften Temperaturen in Berlin bereits vor Wochen im Keller verstaut hatte, vorsichtshalber wieder ausgepackt und mitgebracht habe.

Die Universität gilt hierzulande als mittelgroß (ca. 25.000 Studenten). Die Atmosphäre ist persönlich, als wären wir an einer kleinen, netten Schule, wo jeder jeden kennt. Nichts von der Anonymität einer durchschnittlichen deutschen Universität ist zu spüren. Das Heilende dieses Ortes beruht aber nicht nur auf dem typischen Charakter einer US-amerikanischen Universität. Es ist die große Natur von Oregon: Das Wasser, die Quelle des Lebens, belebt das satte Grün. Der Campus ist mitten in der Stadt und zugleich ein wunderschöner Park mit spektakulärem Baumbestand. Das Hauptgebäude der „UO School of Music and Dance“ steht am Rande des Universitätsgeländes. In dieser Einrichtung wird Musik gelehrt, sowohl die Praxis als auch die Theorie, und mir wird klar, dass sich die Vielfältigkeit von „Musicking“ diesem innovativen Konzept verdankt.

Als ich das Gebäude verlasse und es mich wieder ins Zentrum des Campus zieht, führen mich die gelben Fußabdrücke des „Oregon Ducks“ an einem Friedhof vorbei. Ich habe viele Universitäten und Colleges in mehreren Ländern besucht, aber ein Friedhof direkt an einem Unigelände? Premiere. Wie passend, dass der Friedhof „Eugene Pioneer Cemetery“ heißt. Der Spaziergang durch den einsamen, schlichten und schönen Friedhof ist „soothing“ – beruhigend und wohltuend, besänftigend und heilsam irgendwie. Oregon, das Bundesland direkt am Pazifik, die letzte Station vieler Pioniere. Was muss es damals für diese Menschen, die nach so viel Leid und Elend den nordamerikanischen Kontinent überquerten, für eine Erleichterung gewesen sein, hier anzukommen! Die Luft, die ich einatme, ist sauber, angenehm feucht und riecht nach Wald. Ich freue mich, dass Oregon immer noch so naturbelassen und unprätentiös ist, so wie ich es vor vielen Jahren kennen- und lieben gelernt habe. Ein Ort, wo der Geist des alternativen Lebens keine Mode ist, sondern tiefe Wurzeln geschlagen hat. So wie die herrlichen „Oregon Pine“-Bäume, die vor mir gen Himmel ragen.

Ihre
Akiko Hitomi


Akiko Hitomi ist eine in Berlin freischaffend lebende Drehbuchautorin, Darstellerin und Dozentin. Als eine in Japan geborene und in Deutschland und den USA aufgewachsene Akademikerin und Künstlerin führte sie ihre Ausbildung nach ihrem Studium der Germanistik am Smith College, Massachusetts, an der Universität Hamburg und an der University of California, Irvine/USA weiter an die Oregon State University in Corvallis, Oregon, wo sie als Dozentin für Germanistik und Japanisch arbeitete, bevor sie als Mitarbeiterin des US-Regisseurs Paul Schrader zum Film kam. Zahlreiche Drehbücher für TV und künstlerische Projekte.


Weiterführende Links:
Zur
Veranstaltungsreihe „Musicking“ an der School for Music and Dance in Eugene, Oregon/USA
Zum
Musikwissenschaftler Christopher Small


Abbildungsnachweis: Alle Fotos: Akiko Hitomi
Header:
Konzerteinlass im Collier-House / University OregonGalerie:
01. Flyer-Motiv zur Veranstaltung
02. Programm
03. College of Education
04. Campos University of Oregon Eugene, Deady Hall
05. Campus
06. Music Building
07. MarAble Frohnmayer Music Building / Concert Hall
08. Collier House
09. University Museum
10. Goethe on Reichardt
11. The Oregon Duck foot Prints
12. 13th Street
13. Eugene - (For Rent)
14. Glaube und Frieden
15. Off Fossil Fuels
16. Pionier-Friedhof
17. Pine-Trees

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