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Schloss Windischleuba –Foto Hedwig Storch

Noch immer – auch im Jahre 2017 – liegt die Großtat im Osten Deutschlands den Mächtigen des Kapitals schwer im Magen: Als die alten Schlossherren das Feld räumen mussten und Arbeiter und Bauern das Zepter in die Hand nahmen.
Im Landschulheim Windischleuba (Thüringen) lebten zwischen 1951 und 1974 über tausend vor allem unterprivilegierte – aus bildungsfernen Schichten stammende, wie man heute gern umschreibt – Kinder und legten ihr Abitur ab. Der Autor Karl-Heinz Otto hat dazu zusammen mit Peter Schönhoff ein Erinnerungsbuch herausgegeben. Es fasst in mühevoll recherchierten Texten von einstigen Lehrern, Erziehern, Hauspersonal und Abiturienten zusammen, welche die Farbenpracht einer Sommerwiese, so die Autoren, von Erkenntnissen und Bekenntnissen, einem Bündel von im Studium und im Internatsleben des Landschulheims Windischleuba erworbenen Werten darstellen, als stabile Ausgangssituation für den Aufbruch in eine völlig neue Gesellschaft.Â

Die Deutungshoheit der Geschichte der DDR
Ohne dem Inhalt vorzugreifen – es geht um die Deutungshoheit der Geschichte der DDR mit ihrem Bildungsstreben für die Arbeiter- und Bauernkinder, die die Verfasser der Erinnerungen nicht dem vom Westen aufgedrückten Delegitimierungsunwesen der Bundesrepublik überlassen wollen. So heißt es auf Seite 302: Es ging darum, „nach den schweren Kriegsjahren und der unmittelbaren Nachkriegszeit die Lebensfreude und den Bildungseifer der Kinder zu wecken, sie im Sinne Pestalozzis von Mangel und Verirrungen zu befreien und ihnen zu helfen, echte, tätige und tüchtige lebensbejahende Menschen zu werden“.

Cover Landschulheim Windischleuba – Eine LegendeDie Autoren sehen in ihrem 342-seitigen Band einen Stachel gegenüber den selbsternannten Aufarbeitern, die nach 1989 angetreten waren, „jenes Gesellschaftsmodell zu verteufeln, das uns ehemalige DDR-Bürger 40 Jahre lang prägte“ und welches wir mitgestalteten. Dass sich dabei die Geschichtsklitterer vor allem an Fehlern und Defiziten festbeißen, so schreiben die Autoren, müsse uns nicht erstaunen, „zielen ihre fundamentalen Erkenntnisse doch vorsätzlich darauf, die sozialistische Idee zu verdammen und einen Neustart zu verhindern“.

In dem mit 22 Fundsachen und 19 „Spickern“, wie die Herausgeber die Text- und Bildbeiträge nennen, versehenen Buch stehen zwar die Erlebnisse der Lehrer, Erzieher und Oberschüler im Brennpunkt, bilden aber lediglich den Hintergrund für ein dem gesellschaftlichen Leben zugewandtes Leben, für ein solides politisches Engagement in diesem 1949 gegründeten Arbeiter- und – Bauern - Staat. Obwohl der Klappentext auf die Frage, wie es denn nun im Landschulheim gewesen sei, Antworten zwischen „Es war schön und lehrreich“ und „stalinistisch bis zum Gehtnichtmehr“ anbietet, bleibt es dem Leser überlassen, sich auf Grund der authentischen Zeitzeugenaussagen seine eigene Meinung zu bilden.

Niemand von den Ehemaligen in diesem Landschulheim würde wohl bestreiten, dass es nicht nur sehr streng zuging, im Tagesablauf und im Lernprozess, sondern auch verkorkste Ansichten und heute lächerlich wirkende erzieherische Methoden gab. Man denke nur an die Wahl von Stalin oder Pieck oder Ulbricht in die Präsidien bei Versammlungen, an die Ängstlichkeit vor anderen Meinungen, an die Skepsis gegenüber Jazz, langen Haaren, Jeans und Miniröcken. Auf Seite 46 werden diese und andere Fehler und Einseitigkeiten als undefinierbares Etwas charakterisiert, „das der Diktatur des Proletariats in die Schuhe geschoben“ wird.

An Werten wurde die künftige Intelligenz des neuen Staates nahezu verwöhnt
Auch die – mitunter einseitige – Bewusstseinsbildung als lediglich indoktriniert zu bezeichnen, geht an der Wirklichkeit vorbei. Nahezu allen Textbeiträgen der Zeitzeugen ist herauszulesen, dass die Beteiligten dankbar sind, eine sehr gute Grundlage für ihr späteres Leben und Wirken – trotz oder auch wegen der strengen Disziplin und Ordnung – bekommen haben. An Werten wie gegenseitige Hilfe, Kameradschaft, Pünktlichkeit, Lerneifer, Patenschaftsarbeit, wache Interessen für philosophische und für aktuelle politische Fragen sowie für eine umfangreiche kulturelle und sportliche Betätigung wurde die künftige Intelligenz des neuen Staates nahezu verwöhnt. Und das, es sei extra betont, bei magerem Essen wie Brot und Hagebuttenmarmelade.Â

Es spricht für die Toleranz und geistige Kraft der Herausgeber, wenn sie auch jene zu Wort kommen lassen, die – möglicherweise noch unter dem Einfluss der von der Naziideologie durchtränkten Eltern – von vornherein dem Neuen in der DDR feindlich gegenüberstanden. So wiederholt ein einstiger Oberschüler aus heutiger Sicht, das sozialistische Bewusstsein könne eben nur durch Indoktrination „eingepflanzt“ werden. Dieser Schüler wird vom Vater in den Westen geholt und erlebt dort, wie er schreibt, ein geistiges Niveau, „was mit dem meiner Windischleubaer Schulkameraden nicht zu vergleichen“ war.
Um den Kaffeesatzlesern und einseitig geistig Begnadeten eines von zahlreichen Beispielen politischer Klarheit entgegenzusetzen: Auf Seite 269 schreibt Margret Hartig-Böhme, Schülerin von 1965 bis 1969: „Stalinistisch bis zum Geht-nicht-mehr? Nein, so habe ich das Landschulheim nie empfunden. Gewiss ging es streng zu. Ja, es flossen nicht wenige Tränen, es gab oft ein Hoch und oft ein Tief, gerade bei mir. Aber wem schaden im Ergebnis klar definierte Regeln? Mir wurden eine hervorragende, umfassende schulische Bildung und eine sehr gute Lebensvorbereitung ermöglicht. Schließlich lag es an mir, das Beste daraus zu machen.“

Das mit einem freundlichen Cover versehene Buch der Herausgeber reiht sich mit seinen nahezu 50 Autoren ohne Zweifel und mit besonderem Glanz in die Bemühungen des Vereins Erinnerungsbibliothek DDR ein, Augenzeugen zur Geschichte des Aufbruchs in eine humane sozialistische Gesellschaft für 30 Jahre zu archivieren. Es dokumentiert die Einheit von Leben und Lernen und kultureller Betätigung. Hier konnten „die jungen Menschen ihre Individualität entwickeln und früh lernen, Verantwortung für sich und andere zu tragen“.

Anregung, heutige Verhältnisse kritisch zu hinterfragen
Es ist ein Kaleidoskop von Bekenntnissen und Erkenntnissen, die zu lesen und anzunehmen geistigen Genuss bereitet und nicht nur Erinnerungen der Aufbaugeneration wecken darf, sondern auch Anregung sein mögen, heutige Deutschland-Verhältnisse kritisch zu hinterfragen. Zeitzeugenbefragung - authentischer geht es nicht. Übrigens nannte man das Landschulheim auch „rotes Kloster“. Das spricht für die EOS, für die neuen Schlossherren, für deren Pionierarbeit.

Abschließende Anmerkung: der lange Geschichtsabriss am Anfang des so interessanten Werkes den Einstieg erschwert und möglicherweise im Anhang besser aufgehoben wäre.

Karl-Heinz Otto, Peter Schönhoff: Landschulheim Windischleuba – Eine Legende
Das Buch ist nur im Direktbezug bei Karl-Heinz Otto unter Tel. (0331) 2701 787 oder Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! zu kaufen.
ISBN 978-3-934232-96-9.


Hinweis: Die Inhalte der Kolumne geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen. Erstveröffentlichung dieser Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung.


Abbildungsnachweis:
Header: Schloss Windischleuba mit Wassergraben Foto: Hedwig Storch, (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], Wikimedia Commons
Buchumschlag

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