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Genazino-Luther - Freiheit und Verantwortung heute: Annäherung in 95 Thesen

Vor 500 Jahren schlug Martin Luther seine Thesen an die Schlosskirche in Wittenberg. Schriftsteller Wilhelm Genazino hat nun ein Buch herausgegeben, das erneut die Frage auswirft: Was heißen Freiheit und Verantwortung für uns heute? Antwort geben bekannte Persönlichkeiten und Jugendliche: 95 Mal werden die Begriffe so neu angeeignet und ausgehandelt – als Annäherungsversuch und Gegenwartsentwurf zugleich.

„Freiheit“ und „Verantwortung“ – gibt es noch größere, noch umfassendere, noch gewichtigere Universalbegriffe des menschlichen Miteinanders, noch zentralere Topoi unserer Ideengeschichte? Was bedeuten Freiheit und Verantwortung heute überhaupt, in einer Zeit, in der sie nicht mehr nur als demokratische Errungenschaft, sondern auch als Argument für die dumpfesten Ressentiments begriffen werden? Oder abseits des weltpolitischen Parketts, was heißen Freiheit und Verantwortungen für den Einzelnen, im alltäglichen Miteinander? Und: Kann man das kurz und bündig zusammenfassen?

Freiheit und Verantwortung heute: Annäherung in 95 ThesenDer neu erschienene Band „Freiheit und Verantwortung – 95 Thesen heute“ versucht sich an einer solchen Gegenwartsbefragung, einem Querschnitt durch Lebenswelten und Anwendungsbereiche. 70 Autorinnen und Autoren, tätig in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Journalismus, Kunst und Kultur sind hier vereint, darunter prominente Namen wie Theologin Margot Käßmann, Rechtsanwalt und Snowden-Verteidiger Wolfgang Kaleck, SZ-Redakteur Heribert Prantl, Verleger Michael Klett, Politikwissenschaftler Claus Leggewie und Theaterkünstler Milo Rau.

Sie alle wurden gebeten, anlässlich des 500-jährigen Jubiläums der Lutherschen Thesen ihre je eigene Antwort auf die Frage zu formulieren: Was heißt „Freiheit“ heute, und was bedeutet „Verantwortung“? Entstanden ist ein Sammelband, der die unterschiedlichsten Formen in sich vereint: Gedicht und Kurzszene, Reportage und Erzählung, Essay und Glosse, Ausstellungskatalog, Gesetzestext, Comicstrip. Die entstandene Anthologie spannt den Betrachtungshorizont also weit auf, und ergänzt ihn zugleich um die Perspektive der jüngeren Generation: Denn auch 25 Schülerinnen und Schüler haben in je eigenen Texten die Begriffe erarbeitet. Insgesamt also vereint der Band 95 Stimmen, die sich der Herausforderung einer knapp-thesenhaften Bezugnahme stellen.

Gegliedert ist der Band gemäß zentraler Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens: Staat und Gesellschaft, Migration und Mobilität, Wirtschaft und Arbeit, Kunst und Medien sowie Religion und Glaube. Vor dem ersten Lesen fragt man sich, ob dieses Experiment gelingen kann, dieser sprunghafte Blick ins Vielgestaltige, nur lose zusammengehalten von den beiden Universalvokabeln, ohne beliebig zu werden und in Plattitüden zu verfallen.

Tatsächlich aber glückt es bei einigen Autorinnen und Autoren recht gut. Zu finden sind nüchterne, nachdenkliche, mahnende, auch streitende und anklagende Texte; natürlich ist die Flüchtlingskrise hier ein zentrales Thema, es geht um Krieg in Syrien, um Menschenrechte und den neuen Rechtsruck, um Machtstrukturen und Gesetzesrahmen. Verhandelt wird die zunehmende Ressourcenknappheit, der Klimawandel, die Ernährung der Weltbevölkerung. Es geht um Political Correctness, was Presseöffentlichkeit und Mitbestimmungsrecht bedeutet, um Staatsaffären und Lügenpresse, und um die daraus erwachsenden Aufgaben für Kunst und Kultur. Das erwartet man. Vielleicht ist es aber gerade die knappe Form der These, die hier das herausschälen kann, was sonst in wortgewaltigen Phrasen untergeht: Kerngedanken auf den Punkt bringen, Ansprüche und Anforderungen konkretisieren.

So kann Philosoph Otfried Höffe in „Ein bunter Strauß“ die Prinzipien einer allgemeinverträglichen Freiheit ebenso klar und bündig darlegen, wie die Schriftstellerin Anna Katharina Hahn sich in persönlichem Appellcharakter an die personifizierte Freiheit als kränkelndes Gegenüber wendet. Der ukrainische Autor Serhij Zhadan formuliert in „Bootsbesatzung“ zehn anschauliche Grundüberlegungen zum gesellschaftlichen Freiheitsbegriff, und bei Journalist Jörg Armbruster wird das „Missverständnis“ Freiheit in seiner Begegnung mit jungen Frauen in Ägypten und Syrien erfahrbar, die sich ihre errungene Freiheit ganz anders erträumt haben.

Ja, auch „Freiheit und Verantwortung“ ist dabei nicht frei von belehrenden Tönen, von So-ist-das-Erklärtexten oder So-müsste-das-sein-Forderungen, auch nicht vor Allgemeinplätzen. Da freut man sich über Beiträge, die sich ihrem Gegenstand mal anders annähern, das Abstrakte konkret machen, oder auch kreativ umdeuten. Beispielsweise gelingt es Autorin Adriana Altaras mit ihrem Text „Moral und Schokoladeneis“, den Schrecken des Holocausts in fast schon anekdotenhafter Begebenheitsbeschreibung einer kleinen Wiedergutmachungsgeste einzufangen. Schriftsteller Ingo Schulze formuliert einen Brief an Herrn Dr. Luther, in dem er ihn für seine Thesen dankt und diese zugleich auf ihre Anwendbarkeit in der Jetztzeit hinterfragt. Oder die Regisseurin Alexandra Badea, die szenenhaft neun Bilder entwirft: Mädchenleiche, ihr Auffinden von mehreren Personen (Familie? Freunde?), und dann, wie es heißt, „links acht Fotografen (Männer, Weiße), die sorgfältig ihre Kameras einstellen.“

Was kann der Band also leisten? Eine umfassende Begriffsklärung? Sicher nicht. Gedankenanstöße geben, neue Perspektiven öffnen? Auf jeden Fall. Und neue Diskurse über unser Verständnis Freiheit und Verantwortung brauchen wir heute wahrscheinlich mehr denn je.

Wilhelm Genazino (Hrsg.): Freiheit und Verantwortung. 95 Thesen heute.
Stuttgart: J.B. Metzler, 2016.
252 Seiten. ISBN: 978-3-476-02686-6.

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Abbildungsnachweis:
Header: (links) Wilhelm Genazino auf der Frankfurter Buchmesse 2016. Foto: Heike Huslage-Koch. (rechts) Martin Luther, Stich von Lucas Cranach, 1520. Quelle (beide): Wikipedia C-C. Collage: KulturPort.de
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