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Gino Leineweber

Es ist Juni 2006. Ein sonniger Tag. Ich sitze im Flugzeug und unter mir schiebt sich ein Land ins blaue Wasser der Adria und eine Stadt.
Kroatien und Dubrovnik. In Deutschland, von wo ich komme, wird in wenigen Tagen eine Fußballweltmeisterschaft stattfinden, die ob der begeisternden Fröhlichkeit der Besucher als Sommermärchen in die Geschichte eingehen wird.
Auf dem Weg vom Flughafen zur Halbinsel Pelješac, meinem Ziel wird angehalten, und ich kann von einer Anhöhe aus, einen ausgiebigen Blick auf Dubrovnik und einige vorgelagerte Inseln im Mittelmeer werfen. Bereits vom Flugzeug aus ist das ein herrlicher Anblick. Jetzt, hier auf der Anhöhe, fühle ich mich von der Schönheit mystisch berührt und empfinde wieder, in der Mitte der Welt zu sein.

Im Jahre 1463, auf einer anderen Anhöhe, spricht einiges dafür, dass Sultan Mehmed II, als er sein Pferd zügelt und über das vor ihm liegende Tal blickt, ebenfalls mystisch berührt ist. Unter ihm quillt, rauschend und kalt der Buna Fluss aus dem Fels, zieht westwärts und vermischt sich bald mit den Wassern der Neretva. Hier an der Vrelo Bune (Buna-Quelle) wird später ein Kloster errichtet.

Als Sultan Mehmed die Vrelo Bune erreicht, hat er Bosnien für das Ottomanische Reich erobert. Es ist nicht die erste Eroberung, die Bosnien erlebt, und es wird nicht die letzte sein. In dem Roman des bosnischen Nobelpreisträgers Ivo Andrić „Die Brücke über die Drina“ wird der Wechsel der fremden Einflüsse auf Bosnien-Herzegowina über vier Jahrhunderte hinweg literarisch beschrieben.

Als ich in jenen Junitagen erstmals Bosnien besuche, ist es mir geläufig als ein Land, das einen langen Bürgerkrieg durchlitten hatte, ein Land, in dem grausame Massaker an der Zivilbevölkerung begangen wurden und ein Land, dessen Hauptstadt, Sarajevo, die längste Belagerung ertragen musste, die in der Weltgeschichte jemals dokumentiert wurde. Die Spuren des Krieges sind noch überall zu sehen, obwohl mir meine Schriftstellerkollegen und andere Künstler, die bereits vor Jahren hier waren, und in deren Begleitung ich mich befinde, erzählen, das sei vorher noch schlimmer gewesen, was ich unbesehen glaube.

Vier Jahre später, bei unserem zweiten Besuch haben wir in Städten und Dörfern an Gebäuden und Bauwerken kaum noch Narben des Krieges zu sehen bekommen. Wir, das sind Künstler des Pinsels und Stifts, Maler und Schriftsteller, die sich erneut zu einem Workshop auf der Halbinsel Pelješac zusammenfinden. Aus den Workshops sind jeweils Bücher entstanden, die sich mit einem bestimmten Thema beschäftigen, die sich eng anlehnen, an die Historie und Bewohner Bosniens. Sie bieten uns Material im Überfluss, und unsere Geschichten und Bilder sind auch eine Hommage und ein Dank an die vielen Eindrücke und Begegnungen. Weder das Schicksal des Landes, noch seine Schönheit oder die herzliche Gastfreundschaft seiner Bewohner, lässt uns unberührt.

Brücke der HoffnungHeute, nachdem ich inzwischen viele Male Bosnien besucht habe, fühle ich mich durchaus heimisch. Die Halbinsel Pelješac, wo wir während der Workshops wohnen, liegt in Kroatien, und uns bleiben selbstverständlich die Schönheiten auch dieses Landes nicht verborgen. Doch mehr Material für unsere Arbeit finden wir im bunteren Bosnien-Herzegowina.

Wir machen Ausflüge in die Städte und Gegenden, die mir früher unbekannt waren, deren Namen aber inzwischen für mich einen besonderen Zauber entfalten. Wie beispielsweise die Vrelo Bune, und wer wäre nicht verzaubert von einer Szenerie, in der das Quellwasser in breitem schnellen Rauschen aus einer steil aufragenden Felswand heraustritt, die belebt wird von unzähligen Vögeln, die in ihr nisten und halsbrecherische Flugschauen bieten, aber auch von Ziegen, die hoch oben im Berg balancieren.

Die Quelle des kleinen bosnischen Flusses, genauer gesagt, das, was nach der Eroberung Bosniens von ihr ausgeht, ändert nicht nur das Schicksal Bosniens, sondern auch meinen Blick auf den Islam.
Das ist, auch ohne meine Eindrücke von Vrelo Bune, in Bosnien-Herzegowina, inmitten des Balkans gelegen, nichts Besonderes. Das Besondere besteht in dem Land selbst. Als die Osmanen, die seit dem 15. und 16. Jahrhundert den östlichen Teil Europas weitgehend beherrschen, sich wieder langsam zurückziehen müssen, im 19. Jahrhundert auch aus Bosnien-Herzegowina, trocknen auch die Quellen des Islam, die das beherrschte Gebiet überflutet hatten, langsam aus. Das Besondere an Bosnien ist, dass in ihm der Islam wie ein kleiner Teich nach einer großen Flut zurückbleibt.

Die an der Quelle befindlichen Gebäude und Anlagen sind seit meinem ersten Besuch erheblich ausgebaut und modernisiert worden. Das Gebäude ist im 16. Jahrhundert als Kloster errichtet worden. Wenn auch im Eingangsbereich dem Tourismus für mein Empfinden, nach dem Ausbau, mit den Shops, etwas zu viel Raum zugewiesen ist, sind im Innern des alten Klosters, in seinen niedrigen Räumen und den engen Treppen, immer noch die Schwingungen der alten spirituellen Sehnsucht zu spüren. Außen am Gebäude befinden sich einige Tafeln, die auf die Geschichte des Klosters und die Eroberung Bosniens durch Sultan Mehmed II. hinweisen. Auf einer befindet sich, in englischer, bosnischer und türkischer Sprache, der Text einer Ahdnama des Sultans, die er kurz nach der Eroberung erlassen hatte. Die Ahdnama ist ein verbindlicher Rechtserlass aus den Zeiten des Osmanischen Reichs. Der Text beeindruckt mich tief, denn er lässt Kultur und Politik einer islamischen Gesellschaft in einem völlig anderen Licht erscheinen, das ich vorher nicht damit verbunden habe. Wie viele im Westen weiß ich bis dahin vom Islam nicht viel mehr, als was ich aus den Medien erfahre, auch wenn ich mich durchaus mit dem Leben des Propheten Mohamed beschäftigt hatte.

Nach 2006, dem Jahr, als ich die Ahdnama entdecke, werde ich jedoch – ohne für mich genau erkennbare Ursache – in verschiedene Länder eingeladen, deren Einwohner mehrheitlich Muslime sind oder gar islamisch geprägte Verfassungen besitzen. Inzwischen sind meine Wahrnehmungen über den Islam mehr von eigener Anschauung, vielen Kontakten die ich inzwischen habe, besonders zu Schriftstellerkollegen, und meinen weiterführenden Studien geprägt, die ich nicht nur aus Interesse betreibe, sondern auch weil sie für meine öffentlichen Auftritte in diesen Ländern notwendig sind.

Im Jahre 2006 jedoch ist Bosnien-Herzegowina erst das zweite Land, mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit, das ich besuche. Das erste ist Ägypten. Einmal, vor längerer Zeit, als Tourist, um mir die altertümlichen Sehenswürdigkeiten anzuschauen, und ein weiteres Mal im Jahre 2001, um einen Freund zu besuchen, der in Ägypten, genauer gesagt, auf dem Sinai, ein Hotel betreibt.

Bis zum Zeitpunkt meiner Kenntnisse des historischen Ereignisses an der Buna-Quelle, ist meine Wahrnehmung der Religion des Islam von den Ereignissen des Tags meiner Ankunft auf dem Sinai geprägt. Ich treffe früh am Vormittag ein, bringe meinen Koffer aufs Zimmer und schalte den Fernseher ein, um zu sehen, welche Uhrzeit hier vor Ort ist. Ich wähle den Sender CNN, denn da wird die Zeit immer eingeblendet. Auf dem Bildschirm erscheint ein Wolkenkratzer, aus dessen oberen Stockwerken Flammen schlagen. Ich frage mich, wie die das wohl löschen wollen und wo das ist? Dann kommen zwei Polizeifahrzeuge ins Bild: NYPD. Aha, New York. Danach schwenkt die Kamera wieder auf das brennende Hochhaus, dieses Mal aus einer anderen Perspektive, und ich erkenne, es ist einer der Twin Towers von New York, der in Flammen steht. Ich habe, kurz nachdem das erste Flugzeug am 9. September 2001 in den ersten Turm des World Trade Centers gestürzt ist, den Fernseher eingeschaltet und bleibe danach Stunden davor sitzen, bis irgendwann abends mein Freund kommt, und meint, wir müssten etwas essen.

An dem Tag erfahre ich das erste Mal in meinem Leben, dass es vorkommt, etwas zu sehen, was den Verstand nicht erreicht. Als der erste Turm zusammenfällt (der zweite ist inzwischen, vor meinen Augen, auch attackiert worden), sehe ich das life im Fernsehen. Wo er gestanden hatte, erhebt sich jetzt eine gewaltige Staubwolke. Auf der umlaufenden Schrift am unteren Bildschirmrand wird das Geschehen kommentiert: „The first tower has collapsed“. Ich denke, und zwar nicht nur kurz, sondern immer wieder, wenn mein Blick auf die Schrift fällt, wieso schreiben die „collapsed“ (eingestürzt). Wieso eingestürzt? Was ich gesehen hatte, erreicht mich nicht. Nur langsam dringt das ganze Ausmaß der Ereignisse in mein Bewusstsein, und ich nehme an, dass es nicht nur mir so gegangen ist.

Trotzdem wird sofort über Reaktionen gesprochen, öffentlich und privat. Das liegt in der Natur der Sache und der Menschen. Auch ich machte da keine Ausnahme, inmitten des Sinai, im Norden des Golfs von Akaba, in Sichtweite von Israel, das weiter nördlich liegt, und Jordanien, auf der anderen Seite des Golfs. Der Sinai ist eine wüstenhafte, schroffe Halbinsel, die von kahlen Bergen und Felsen durchzogen wird. Ich empfinde die Landschaft als unangenehm, wahrscheinlich, weil sie das unbedingte Gefühl vermittelt, jedes Leben bitter, wenn nicht gar unmöglich werden zu lassen. Die schwer zu ertragende Hitze verstärkt diesen Eindruck. Ich fühle mich gefangen. Würde man alle Flughäfen schließen? Und wenn ja, für wie lange? Wie würden die Muslime um mich herum reagieren?, denn es werden von Anfang an Islamisten verdächtigt. Ich schaue mir die wenigen Einheimischen die ich treffe an, kann aber nichts feststellen. Sie sind höflich und verurteilen im Gespräch die Anschläge. Wir Freunde sitzen zusammen und diskutieren, und ich erinnere mich heute noch, dass ich immer wieder argumentiere: „Druck erzeugt nur Gegendruck, Gewalt zieht immer Gewalt nach sich“. Gemeinplätze zwar, aber deshalb nicht weniger richtig. Man möge die Täter verfolgen, vor Gericht stellen und sie angemessen bestrafen, plädiere ich, aber man solle nicht mit Gewalt gegen wen auch immer zurückschlagen. Ich bin relativ allein mit meiner Meinung, und wie man an den nachfolgenden Reaktionen sehen kann, nicht nur im Kreise meiner Freunde.

Der damalige amerikanische Präsident, Georg W. Bush, entscheidet sich für Druck und Gewalt, beginnt mehrere Kriege, wovon der „Gegen den Terrorismus“ der erste ist, und verstößt mit seiner Politik mehrfach gegen die Menschenrechte, die zu verteidigen er vorgibt. Jedes Leben, das diese Auseinandersetzungen auf allen Seiten immer noch kostet, ist und wird umsonst geopfert. Die Welt hat sich damit in einer tiefen Schlucht der Schuldzuweisungen verfangen, in der vor lauter Lärm von rechts und links keiner die Rufe der Verständigen hört.

Für mich ist es eine Frage des Respekts, sich mit der Kultur eines fremden Landes, das ich besuche, zu beschäftigen, auch und besonders wenn sie islamisch geprägt ist. Meine Kontakte zu Muslimen in deren Heimatländern geben mir Einblicke in ihre Gesellschaft, die weit über das hinausgehen, was ich aus den Medien erfahren kann. Die Kenntnis über den Islam in unseren Breiten ist tief geprägt durch Konflikte und Terroranschläge, durch Fragen der Integration von Immigranten und misslungenen Beispielen dafür. Hilfreich wäre es, zumindest in den letzteren Fällen, man konzentrierte sich auf die Menschen. Probleme der Integration in eine andere Gesellschaft oder deren Misslingen, betreffen Männer, Frauen oder Kinder, die als Immigranten kommen. Die Probleme sind nicht beschränkt auf Muslime. Welchen Glaubens auch immer, Immigranten bringen sowohl Wünsche als auch Abneigungen mit, und ihnen stehen häufig entgegengesetzte Wünsche und Abneigungen der einheimischen Bevölkerung gegenüber.

Anders ist es in den Fällen von gewalttätigen Konflikten und Terroranschlägen. Die Religion wird von den Verursachern der Gewalt selbst ins Spiel gebracht. Die hilflosen Toleranzbemühungen westlicher Politiker, wenn sie nach Anschlägen von Islamisten erklären, das habe mit dem Islam nichts zu tun, sind gedankenlos daher gesagt und verstärken nur die Unsicherheit bei denen, die nicht dieser Religion angehören. Es wäre Sache des Islam und seiner Vertreter, uns Erklärungen zu geben, damit wir anderen es aus berufenem Munde hören. Aber das hören wir leider nicht.

Der Islam als Religion ist etwas anderes als die Religion jedes einzelnen Muslims oder jeder einzelnen Muslima. Eine Religionsgemeinschaft vertritt Werte, die für die Gläubigen gelten sollen. Für die Menschen jedoch ist Religion etwas, das jeder mit sich selbst auszumachen hat. Sie ist erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen.

Es muss unwichtig sein, welcher Religion jemand angehört, wenn es um gesellschaftliche und kulturelle Fragen geht. Ob ein Mensch beispielsweise der Religion des Islam angehört, ist seine Sache. Jeder soll glauben, an was er will. Ich habe Freunde in Deutschland, von denen ich nicht sicher weiß, welcher Religion sie angehören. Es spielt keine Rolle. Diese Einstellung zum Mitmenschen entspricht der, die ich gegenüber Freunden aus Jugoslawen erlebt habe. Vor dem Auseinanderfallen Jugoslawiens habe ich nicht gewusst, ob sie beispielsweise Serben, Kroaten oder Bosniaken sind. Es ist mir egal gewesen. Nur ihnen dann plötzlich nicht mehr. Nachdem Tito gestorben war, und es alles drunter und drüber geht, in seinem Jugoslawien, bis zum Krieg, ist es den Mitgliedern der einzelnen Gruppen, auch in Deutschland, nicht mehr egal, und die Ablehnung des jeweils Anderen ist auch nach Deutschland getragen worden.

Bei meinem ersten Besuch Bosniens bin ich mir sehr bewusst, in ein Land zu kommen, das schwer traumatisiert ist. Dagegen wird in Deutschland, zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, die heimatliche schwarz-rot-goldene Fahne im Freudentaumel einer harmlosen Sportveranstaltung geschwungen. Ich habe zuerst ein wenig mit dieser nationalen Begeisterung gefremdelt, als ich davon in Bosnien höre. Aber als ich zurück in Deutschland bin, werde ich von der Feierlaune mitgetragen, die auch nicht abebbt, als die deutsche Mannschaft aus dem Wettbewerb ausscheidet: Von da an werden eben die anderen bejubelt, und es macht keinen Unterschied ob die fahnenschwingenden, schwarz-rot-gold bemalten Männer und Frauen einen Migrationshintergrund haben. Wie schön, denke ich, in einem Land leben zu dürfen, wo sich die Menschen nicht mit Ablehnung begegnen.

Das ist beispielsweise in Bosnien-Herzegowina im Jahre 2006 noch ganz anders, und besonders deutlich in Mostar zu beobachten. Die weltberühmte Brücke über die Neretva, die am 9. November 1993 zerstört wird, nur weil sie als Symbol der Begegnung zwischen den Völkern steht, ist inzwischen wieder aufgebaut worden. Ein Meisterwerk türkischer Baukunst, auch der Wiederaufbau. Selbstverständlich überquert man sie, wenn man in Mostar ist. Ich tue es und viele andere. Aber nicht alle. Die Kroaten von der einen Seite der Stadt benutzen sie nicht, weil sie nicht in den muslimischen Teil gehen, in den der Bosniaken, und diese wiederum nicht in den der Kroaten.

Dabei ist Stari Most, die Alte Brücke, nicht nur ein städtebauliches Juwel. Jeder, der sie überquert, und von der Brüstung in die grünen Wasser der Neretva schaut und dem Fluss mit seinem Augen folgt, wie er sich eng durch Stein und Landschaft schlängelt, ist fasziniert von dem was sich den Blicken darbietet. Aber nicht nur vom grandiosen Panorama. Im Darübergehen fühlt man das Versprechen der Verbindung zwischen den Kulturen. Auf den glänzenden Kopfsteinen, findet der Fuß nie den gewohnten Halt und man spürt das Gehen erneut wie einstmals als Kind, als man barfuß zu laufen gewohnt ist, und die Füße alles Ebene und Unebene erfühlen und einen Grundton erzeugen, aus dem sich die Bewegung in reine Freude verwandelt.

Aber nicht nur Stari Most zu überqueren, erfüllt das Herz, sondern auch ihr Anblick von einem der vielen Stellen von unterhalb. Dem Schriftsteller, der sich dem Zauber dieses einmalig türkisfarbenen Flusses hingibt, über den sich jener Brückenbogen filigran erhebt, obwohl er aus tausenden schwerer Steinen gefertigt ist, mag es geschehen, dass ein Engel sich zu ihm setzt und ihm eine Geschichte ins Ohr flüstert, die dann nur noch niedergeschrieben zu werden braucht.

Solche geistigen Eindrücke sind es, die mit Symbolen verbunden sind, mit der Energie um sie herum, einer geschichtlichen und kulturellen Aura, die sich den Menschen öffnet. Wenn man sie zerstört, wie Stari Most, verliert man nicht nur eine Brücke oder ein Symbol, sondern auch die Geschichten der einzelnen Menschen, die sich in der Wirkung des Symbols zu dessen eigener Geschichte verbinden. Da sich die Geschichte in Mostar nicht von der von Vrelo Bune trennen lässt, ist mit der Zerstörung auch der Geist des mittelalterlichen Ahdnama betroffen.

Das hat der kroatische General, der sich später nicht entblödete, sich öffentlich mit der Zerstörung der Brücke von Mostar zu brüsten, wahrscheinlich nicht begriffen. Er mag nur eine dumpfe Vorstellung davon gehabt zu haben, was dieses Symbol der Begegnung der Kulturen im Tiefsten bedeutet, und es ist leider seine Ignoranz damals, im November 1989, die über die Ahnung von jener Bedeutung triumphiert. Hoch oben, von einem der Berge, die das Tal der Neretva umgeben, schießen er und seine Soldaten sich auf die Brücke ein. Mutwillig zur Zerstörung, ohne strategische Notwendigkeit.

Den Menschen auf der anderen Seite ist die Bedeutung durchaus bewusst, denn obwohl zu dem Zeitpunkt die Verbindung längst unterbrochen ist, kämpfen sie verzweifelt um den Erhalt der Brücke. Im kleinen Brückenmuseum auf der bosnischen Seite ist die Liebe der Menschen für dieses bedeutsame Bauwerk dokumentiert. Aber auch der Hass derjenigen wird deutlich, die von dieser Liebe nichts verstehen, obwohl doch das Wort Liebe bei ihnen, in deren christlicher Religion, im Begriff ihres höchsten Werts enthalten ist: der Nächstenliebe.

Im Museum zeigen Fotos, wie die Einschüsse nach und nach das grandiose Bauwerk verheeren. Die Kroaten auf dem Berg zeigen kein Mitgefühl, als die Bosniaken weiße Fahnen auf der ruinierten Brücke hissen, um weiteren Beschuss zu verhindern. Schon gar nicht lassen sie sich davon erweichen, dass die Bosniaken verzweifelt alte Autoreifen an die Brückengeländer hängen, um ihr Herzstück zu schützen. Ein letzter Strohhalm, zu dem sie greifen, aber er trägt nicht.

Wir, in der Europäischen Union, haben die Kroaten inzwischen aufgenommen. Zuvor schon die Slowenen. Zwei frühere Staaten Jugoslawiens. Mit Serbien werden inzwischen Beitrittsverhandlungen für die EU geführt. Mit Bosnien-Herzegowina nicht. Wobei der guten Ordnung halber erwähnt werden soll, dass es auch noch kein Beitrittsgesuch gestellt hat. Im Vorfeld gibt es allerdings Hinweise an die bosnische Regierung, dies sei zurzeit auch aussichtlos. Es müssten zuvor bestimmte Verfassungsänderungen vorgenommen werden. Im Falle von Serbien ist dagegen die weiterhin ungeklärte Situation zwischen dem Land und dem Kosovo kein Hinderungsgrund.

Dabei ist Bosnien-Herzegowina, insbesondere mit seiner Hauptstadt, Sarajevo, der Inbegriff eines multikulturellen Miteinanders gewesen. Juden, Christen und Muslime sowie Serben, Kroaten und Bosniaken haben miteinander gelebt und sich nicht weiter um Religionszugehörigkeit oder Ethnien gekümmert. Womöglich entstammt es dem Geist des Ahdnamas des Sultans, der noch fünfhundert Jahre später Menschen und Land erfüllt hat. Leider hat er es aber nicht geschafft, weiter nach Westen in das Bewusstsein derer zu gelangen, die heute beklagen, den islamischen Ländern fehle es an dem, was die christlichen vom Religionsdruck befreit hat: der Aufklärung.

Sultan Mehmet II. überreicht die Ahdnama kurz nach der Eroberung von Bosnien den damals dort lebenden Katholiken. Er erklärt darin:
Ich, Sultan Mehmet-Khan, befehle: Niemandem sei erlaubt, den Katholiken Schaden zuzufügen noch ihren Kirchen. Sie sollen in Frieden in meinem Reich leben. Gewährt denjenigen, die Flüchtlinge wurden Sicherheit. Lasst sie zurückkehren und sich ohne Angst, in allen Ländern meines Reichs, in ihren Klöstern niederlassen. Weder ich noch meine Begleiter oder irgendein Bewohner meines Reichs soll sie verfolgen oder belästigen. Keiner darf sie angreifen, beleidigen oder gefährden; weder ihr Leben noch ihr Eigentum oder das ihrer Kirchen.

Dieser Erlass, unter anderem „im Namen des Schöpfers von Himmel und Erde“, soll solange gelten wie sich die Katholiken folgsam und treu dem Sultan gegenüber verhalten.

Dieses Schriftstück zeigt Unabhängigkeit und Toleranz gegenüber anderen Religionen, Weltanschauungen oder Rassen und schützt die Grundrechte der gerade besiegten Menschen in Bosnien. Somit ist es die älteste mir bekannte Menschenrechtserklärung in der Geschichte.
Ich hatte etwas entdeckt, was ich nicht erwartet hatte. Zudem sind meine Fragen beantwortet worden, wie es in einem Land ist, das mehrheitlich von Menschen bewohnt wird, die Muslime sind. Was ist anders? Ich fahre durch das Land, bewundere seine Naturschönheiten, lasse mich vom städtischen Leben bezaubern und empfinde das Trauma des noch nicht lange zurückliegenden Kriegs. Die Antworten sind: Alles und nichts ist anders. Alles, weil es ein anderes Land ist und Nichts, weil die Menschen dort weder andere Wünsche und Träume noch Ängste und Befürchtungen haben. Das gilt generell. Im Einzelnen ist jeder Mensch ein Individuum, womit ich alle Andersartigkeit schon in meiner unmittelbaren Umgebung finde. Deswegen bräuchte ich nicht zu reisen. Aber vielleicht bewirkt Reisen den entscheidenden Unterschied zum Begreifen. Wenn ich auch vieles erwartet hatte damals, einen Text wie den Erlass von Sultan Mehmed nicht.

Der Krieg. Das ist natürlich auch etwas, was ich wissen will. Wie hat er sich ausgewirkt? Ich erwarte Antworten, und ich finde in der Tat eine Menge davon. Die Ursache für den Krieg allerdings liegen, heute nicht selbstverständlich, nicht in der Religion oder unterschiedlichen Religionen begründet. Es gibt eine lange Ursachenforschung aus der heraus die Schlussfolgerung erlaubt ist, dass es reine Gier war. Gier nach Land, Eroberung, Macht, Vorherrschaft auf dem Balkan. Dabei schreckt man auch vor Massenmorden nicht zurück, die einem Völkermord nahe kommen.

Verantwortung und Schuld. Die vorstehende Erkenntnis bedeutet allerdings nicht, dass sich die Religionen aus dem Konflikt herausgehalten hätten, und noch viel weniger heißt es, die religiösen Einflüsse in der gegenseitigen Ablehnung hätten sich nach dem Krieg wieder aufgelöst. Die inneren Wunden, jedenfalls ist das mein Eindruck aus nunmehr einigen Besuchen in Bosnien, werden noch lange das Leben beeinflussen. Die äußeren dagegen sind kaum noch sichtbar. Sie sind relativ schnell geschlossen worden.

Wie auch in Počitelj, einer alten Karawanserei, in der die Händler einst ihre Waren tauschten. Dort, auf einem Berghang erhebt sich eine Moschee, die, wie der Imam erzählt, in einer der klassischen bosnischen Moschee-Bauweisen ausschließlich aus Stein erbaut ist. Solche Moscheen, von denen es ungefähr vierzig in Bosnien geben soll, mit einer großen Kuppel und zwei Minaretten, sind zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert entstanden. Vor der Moschee in Počitelj sehe ich Bilder, die von der Zerstörung der Moschee durch kroatische Truppen zeugen. Schon wieder Bilder. Erst in Mostar, nun in Počitelj.

So wird die Zerstörung in der Erinnerung bleiben. Damit sie Geschichte wird, muss über sie erzählt werden, wieder und immer wieder. So war es schon immer. Früher wurde gesungen, heute werden Bilder gezeigt. Bei den Troubadouren gingen die Erinnerungen allerdings häufig durcheinander, und was gesungen wurde, war meist schon aus zweiter oder dritter Hand. Auf den Fotos wird es nichts Falsches geben. Sie zeigen die Realität. Dennoch wird sich durch sie unser Blick auf die Geschichte, die noch nie die Realität widerspiegelte, nicht verändern. Ein Kroate, der die Bilder betrachtet, wird sie anders wahrnehmen als ich es tue, und ein Bosniake wiederum anders. Der Imam sieht zwar dasselbe wie ich, aber unsere Wahrnehmungen sind nicht dieselben. Ich kann das Ausmaß der Zerstörung, als ich es auf den Fotos dokumentiert sehe, kaum glauben, denn die schöne Moschee, vor der ich stehe, zeigt keine Kriegseinwirkungen mehr.

Wie gesagt, die sichtbaren Wunden können schnell geschlossen werden. Bei den unsichtbaren ist es anders, und ich meine nicht nur die inneren Verletzungen der einzelnen Menschen, sondern auch, dass, wie hier in Počitelj, viele, vor allem junge, Menschen während des Krieges geflüchtet sind, und der Ort immer noch nicht wieder die Einwohnerzahl erreicht hat, wie vor dem Krieg.

Es ist Unheil, was beim Betrachten der Bilder aufscheint, mehr noch als in Mostar. Dort ist es Ignoranz über die Bedeutung eines Symbols gewesen. Hier, was ist es hier? Die Zerstörung mag vielleicht denselben Grund haben aber vielleicht auch einen anderen. Sie erscheint als blinde Gewalt gegen ein Gebäude. Es ist schwierig, dabei auf den Grund zu schauen, von dem aus sich das Handeln erhebt. War es schon von Anbeginn Unheil oder hat es sich erst dazu entwickelt? Ohne Antwort auf die Frage aber, kann das Unheil nicht überwunden werden. Wie der Hebel einen festen Punkt, von dem aus er wirkt, benötigt, muss man, um Unheil zu vermeiden, seine Ursache kennen. Die Bilder zeigen eine zerstörte Moschee, aber zur Geschichte wird nur das Unheil werden.

Der Imam der Moschee ist ein liebeswürdiger Herr, der sich meinen und den Fragen meiner Schriftstellerkollegen immer gern stellt. Bei meinem ersten Besuch habe ich mich für die Moschee und den zurückliegenden Krieg in Bosnien interessiert. Bei meinem zweiten spreche ich ihn aber auch auf die religiös bedingten Kriege und Konflikte an, mit denen wir in der Welt von heute zu leben haben. Was er mir zur Antwort gibt, ist so simpel wie die Wahrheit nur sein kann: Konflikte haben keine Dauer. Sie entstehen aus der Unbedachtsamkeit der Menschen, die sie verursachen.
Mir fallen sofort die Drei Daseinsmerkmale des Buddhismus ein, einer davon ist: Anicca (Vergänglichkeit) . Der Logik nach muss es so sein, dass, wenn alles unbeständig ist, es auch der Konflikt ist. Meine nächste Frage hätte ich sowieso stellen wollen, auch wenn mich seine vorherige Antwort nicht an die buddhistische Lehre erinnert hätte. Doch nun stelle ich sie vor der merkwürdigen Duplizität der Ereignisse, nämlich dass Buddha Gautama oder seine Lehre sich erneut in die Erfahrungen mischen, die ich mit der islamischen Lehre oder zumindest Teilen davon erlebt habe.
Das erste Mal, geschieht dies im Frühjahr 2010, in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad. Ich gehe mit Kollegen an einem sitzungsfreien Nachmittag ins dortige Heritage-Museum. Gleich hinter dem Eingang treffen wir auf ein großes Wandgemälde mit einer Reihe von Porträts und der Überschrift „Land of Wisdom“ (Land der Weisheit). Das erwartet man doch eher in Athen, denke ich kurz, aber tatsächlich erschien mir das nicht besonders merkwürdig. Auch wenn statt Weisheit heutzutage, Sicherheit das wichtigste Gut in dem Land zu sein schien, wie ich nicht zuletzt an dem Hotel, in dem ich untergebracht bin, feststelle. Es gleicht einer Festung, um die Gäste vor Terroranschlägen zu schützen. Aber warum soll nicht Pakistan weise Meister hervorgebracht haben? Ich halte mich dort auf, weil ich auf einer Konferenz zum Thema Sufism and Peace (Sufismus und Frieden) sprechen durfte. Die Porträts auf dem Gemälde, auf das ich im Museum zutrete, zeigen die Begründer und Protagonisten des Sufismus, einer Strömung des Islam, der, wie ich erfahre, die Mehrheit der pakistanischen Muslime sich zugehörig fühlt. Diese großen Meister auf dem Bild gruppieren sich um einen anderen Meister in der Mitte des Gemäldes: Buddha Gautama. Das allerdings erscheint mir merkwürdig.
Nach diesem ersten nur kurzen Aufenthalt komme ich bei meinem zweiten Besuch, zu einer weiteren Konferenz in Pakistan, dieses Mal nach Lahore, und bleibe eine zusätzliche Woche dort. Denn ich meine, das Land hat es verdient, sich näher mit ihm zu beschäftigen, und ich erfahre, dass ich mich nicht täusche. In meinem Leben habe ich noch niemals eine solche Gastfreundschaft erlebt, wie in der Woche nach der Konferenz in Lahore.

Auch dort, in der Stadt und dem Land, die von Terroranschlägen überzogen werden, habe ich gelernt, was die Wahrnehmungen mit uns machen. Denn, was ich vom Befreiungskampf und der Unabhängigkeit des indischen Subkontinents gewusst habe, ist geprägt von westlicher Sicht und Denkweise. Gandhi, wer würde ihn nicht kennen? Wer bewunderte ihn nicht? Ich auch, und das hat sich auch nicht geändert. Aber, auf dem indischen Subkontinent wurden 1947 zwei Staaten in die Unabhängigkeit von Großbritannien entlassen, und neben Gandhi hat auch der Führer der muslimischen Bevölkerung der britischen Kolonie Muhammad Ali Jinnah für die Unabhängigkeit gekämpft, und er wird natürlich in den Geschichtsbüchern Pakistans mehr gefeiert als Gandhi. Jinnah gilt als der Begründer Pakistans. Aber davon wissen wir im Westen nichts beziehungsweise es ist uns nicht bewusst. Ich habe jedenfalls seinen Namen, der in Pakistan allgegenwärtig ist, vorher noch nie gehört. Von Gandhi dagegen weiß ich (fast) alles.

Islamabad, eine erst in den 1960iger Jahren des letzten Jahrhunderts gegründete Regierungsstadt, liegt in einer Gegend, die in der buddhistischen Geschichte eine große Rolle spielt. Schon aus geografischen Gründen ist es deshalb nicht ungewöhnlich, dass Buddha Gautama auf dem Gemälde gezeigt wird. In der Nähe von Islamabad nämlich hat einst König Akosha residiert, und neben einem sufistischen befindet sich dort auch heute noch ein buddhistischer Tempel. Jedem, der sich mit dem Buddhismus beschäftigt, ist der Name Akosha ein Begriff. Er ist es gewesen, der seinerzeit für die Verbreitung der Lehre des Buddha gesorgt hat, und es ist kein Zufall, dass, viele Jahrhunderte später, nachdem der Islam in diesen Teil der Welt gedrungen ist, eine andere Lehre ihre Verbreitung findet, die des Sufismus. Man kann ihn knapp als den mystischen Teil des Islam zusammenfassen. Zwischen ihm und der Lehre Buddhas gibt es evidente Gemeinsamkeiten.

Ob der Imam in Počitelj bei seiner weisen Aussage auf die buddhistische Lehre, den Sufismus oder womöglich den griechischen Philosophen Heraklit, mit seinem berühmten Ausspruch panta rhei (alles fließt) zurückgegriffen hat, weiß ich nicht. Es könnte der griechische Einfluss sein, denn der Imam hat in Belgrad, Athen und Kairo studiert und unter anderem griechische Philosophie. Oder es ist vielleicht doch ein sufistischer Einfluss? Ich habe den Imam nicht danach gefragt, obwohl es mich interessiert hätte, ob er womöglich ein Sufi-Anhänger ist. Aber ich finde, es hätte sich nicht gehört, ihn das zu fragen. Wonach ich ihn gefragt habe, ist, wie es seiner Meinung nach sein könne, dass sich, in einem muslimischen Museum in Islamabad, Buddha Gautama auf einer Ahnentafel großer Meister des Sufismus befindet. Die Antwort des Imam ist im übertragenen Sinn: ‚Warum nicht’ und wörtlich: „Buddha hatte den Weg zum Sufismus in sich und der Buddhismus hat großen Einfluss auf den Sufismus.“

Das Kloster an der Vrelo Bune, das nach der Eroberung Bosniens durch das Osmanische Reich gegründet wurde, ist im Übrigen ein Sufi-Kloster. Ein Kloster der Liebe, denn das ist der Kern des Sufismus. Die Liebe zu Gott, die in mystischer Form der Liebe zur Weisheit, der Philosophie, entspricht. Sie ist das zentrale Anliegen der Sufis. Von den religiösen Fanatikern im Islam werden sie abgelehnt. Deren Anliegen ist nicht die Liebe, sondern der Gehorsam zu Gott, und den fühlen sie in der Liebe nicht ausreichend berücksichtigt.

Sie tolerieren die Sufis auch nicht, sondern bekämpfen sie. So haben sich in den letzten Jahren die schrecklichsten Terroranschläge in Pakistan gegen Sufi-Tempel gerichtet. Am 1. Juli 2010 traf es in der historischen Walled City von Lahore einen der ältesten Sufi-Schreine Asiens, Data Darbar. Bei dem Anschlag waren mehr als fünfzig Todesopfer und über zweihundert Schwerverletzte zu beklagen.

Auf dem großen marmornen Platz vor dem Schrein treffen sich die Gläubigen. Eine große grüne Kuppel, auf der sich Hunderte Tauben wohlfühlen, überwölbt das Gebäude, in dem sich die Überreste eines Sufi-Heiligen aus dem 11. Jahrhundert befinden. In den Abendstunden verleiht das strahlend grüne Licht der Kuppel der gesamten Szenerie eine geheimnisvolle, mystische Atmosphäre. Hier sind früher die Armen gespeist worden und in den Abenden ist spiritueller Sufi-Tanz zu sehen und Gesang zu hören gewesen und jeder hat ungehindert den heiligen Schrein zum Gebet aufsuchen können. Das ist nach dem Terroranschlag vorbei.

Den Schrein kann man heute nur noch betreten, nachdem strenge Sicherheitskontrollen überwunden sind. Nicht nur wir im Westen, auch wenn wir von unseren Medien den Eindruck vermittelt bekommen, haben nach Terroranschlägen Behinderungen und Erschwernisse im täglichen Leben hinzunehmen. Wenn wir von islamistischen Anschlägen heimgesucht werden, sind wir zu Recht zutiefst betroffen. Die Trauer mit den Angehörigen, Freunden und Landsleuten der Opfer ist nicht nur als Trost für sie, sondern, durch das selbstverständliche Mitgefühl, auch als Trost für uns selbst zu verstehen. Es schützt vor übergroßer Verzweiflung und falschen Reaktionen. Aber nicht vor einseitiger Beurteilung. Jedenfalls dann nicht, wenn wir nicht gewahr werden, dass sich die meisten islamistischen Terroranschläge nicht gegen uns, nicht gegen Christen, nicht gegen den Westen, sondern gegen sich selbst, gegen Muslime, richten. Hier verlieren wir viel von unserem Mitgefühl, weil es sich in der Ferne ereignet und kaum eine Meldung in unseren Medien wert ist.

Menschen, die islamistische Anschläge fürchten, und besonders diejenigen, die alle Muslime unter Generalverdacht stellen und ablehnen, würden ihre Einstellung ändern, wenn ihnen bewusst wäre, dass die von ihnen abgelehnten Menschen selbst Opfer sind, und das nicht nur, sondern gerade weil sie Muslime sind.

In unserer heutigen aufgebrachten Zeit mag es hilfreich sein, sich darauf zu besinnen, dass es auch im Islam geistige Errungenschaften gibt. Dass er nicht nur aus Strömungen besteht, in denen das Glück im Jenseits ein Martyrium im Diesseits kostet. In Bosnien zeigt ein muslimischer Herrscher Andersgläubigen gegenüber Toleranz und Umsicht, zu einer Zeit, als West- und Mitteleuropa von der „Heiligen“ Inquisition geprägt ist und die dogmatische Katholische Kirche gerade erst mit ihren Hexenprozessen und -verbrennungen beginnt. Im Übrigen verlangten die von den christlichen Spaniern vertriebenen muslimischen Mauren zuvor, während ihrer Herrschaft über Andersgläubige, nicht, dass Christen oder Juden sich bekehren. Sie erwarteten dafür, dass ihre Herrschaft anerkannt wird. Dies zeigt, dass die Ahdnama des Sultans in Bosnien nicht das Werk eines einzelnen toleranten Herrschers war, sondern durchaus im Einklang stand mit jener grundsätzlichen Toleranz die auch im maurischen Spanien zu blühenden Wissenschaften und kultureller Vielfalt geführt hatte.

Der Imam in Počitelj sagt: Konflikte dauern nicht ewig. Ich glaube daran, dass es wahr ist, und in dieser Erkenntnis liegt Hoffnung. Im Herzen von Sarajevo befinden sich von Alters her eine Moschee gegenüber einer Orthodoxen Kirche und einer Katholischen Kathedrale und einer jüdischen Synagoge. Ein Platz der Religionen ohne Grenzen, von dem aus Brücken geschlagen werden können zu den Unbeständigkeiten der Konflikte.

In Bosnien haben Brücken immer eine bedeutende Rolle gespielt. Die Brücke über die Drina, die als Verbindung zwischen dem Osmanischen Reich und Bosnien-Herzegowina gebaut wurde, und der Ivo Andrić literarisch ein Denkmal gesetzt hat, genauso wie Stari Most, die Brücke über die Neretva in Mostar, die seit Alters her auch als symbolische Brücke zwischen Orient und Okzident gilt. Möge es dem kleinen Bosnien-Herzegowina vergönnt sein, selbst die Funktion einer Brücke übernehmen und, im Geist der Ahdnama von Sultan Mehmet II., die Gegensätze zwischen den Welten des Islam und des Christentums, zwischen West und Ost überwinden.

Brücke der Freiheit, Hrsg. Emina Čabaravdić-Kamber und Uwe Friesel, Verlag Expeditionen, 2014. Weitere Veröffentlichung als Hardcover-Buch Ende April 2015 beim Verlag Das Bosnische Wort.

Gino Leineweber wurde 1944 in Hamburg geboren und arbeitet als freier Schriftsteller und Herausgeber. 2000 bis 2008 Redakteur der Buddhistischen Monatsblätter (BM). 2003-2015 Vorsitzender der Hamburger Autorenvereinigung. Seit 2013 President of TSWTC (Three Seas Writers’ and Translators’ Council).


Abbildungsnachweis:
Header: Gino Leineweber. Foto: privat
Buch-Cover