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Richard McGuire: Hier

Der US-Illustrator Richard McGuire blättert in seinem gezeichneten Buch „Hier“ (Dumont Verlag) auf, was in dreieinhalb Milliarden Jahren am Ort eines amerikanischen Südstaaten-Hauses so alles passiert ist. Eine Zeitreise mit ungewöhnlichen Perspektiven, faszinierenden Bildern – und eine zauberhafte Graphic Novel, die man immer wieder zur Hand nehmen kann, um Neues darin zu entdecken.

Was, wenn das wirklich so wäre, wie der Schreiber es sich als Junge einst zurechtträumte? Wenn sich Bilder allen materiellen Geschehens in atomaren Schichten als bleibende Spuren anlagerten an die Wände der Räume, in denen es passiert ist? Wenn sie dort überdauerten und irgendwann von Bild-Archäologen Schicht für Schicht abgetragen, restauriert und wieder sichtbar gemacht werden? Was würden wir dann zu sehen bekommen? Eine kontinuierliche Geschichte? Oder nur Fragmente gelebten Lebens? Was würde uns das bedeuten? Bekämen wir Antworten oder neue Fragen? Und was würden wir daraus lernen?

Richard McGuire, Cover-Illustrator des „New Yorker“, der auch für die „New York Times“, „Libération“ und „Le Monde“ zeichnet, hat seine Graphic Novel „Hier“ zu einer verblüffenden Zeitmaschine gemacht. Sie zieht die Betrachter über 150 Doppelseiten in einen Strudel von Ereignissen, die alle am selben Ort geschehen und vor allem durch diesen selben Ort miteinander verbunden sind: ein Zimmer in einer Villa, links ein Fenster, rechts ein Kamin. Manchmal dürfen wir das Haus auch von draußen anschauen. Jahreszahlen in der linken oberen Ecke sind Orientierungshilfen, wo Tapetenmuster, Kleidermoden, Technik und Sprachstil nicht weiterhelfen – Stoppschilder auf einem wilden Flug durch die Zeit, der gesteuert wird vor allem durch die Assoziationen des Zeichners und durch die der Betrachter.

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Am Anfang, vor dreieinhalb Milliarden Jahren, ist die Welt auch an diesem Fleck wüst und leer, später tauchen Saurier und andere Urmonster auf. Irgendwann leben Indianer dort, dann kommen holländische Siedler, irgendwann sind es Amerikaner, die dort leben. Der Fokus liegt im vergangenen Jahrhundert – aber McGuire gönnt sich, da er nun schon mal die Zeitmaschine angeworfen hat, auch Blicke in die Zukunft, zeigt virtuelle Touristen, Atom- und Naturkatastrophen in greifbar nahen Zeiträumen, nach denen die Erde, 20.000 Jahre später, sich wieder in einen paradiesischen Zustand eingependelt hat.

Da trampelt ein Saurier durchs Telefongespräch
So würde die Geschichte lauten, wäre sie chronologisch erzählt. Ist sie aber nicht. Sie fängt irgendwo an, könnte aber auch an einer ganz anderen Stelle anfangen, hat konsequenterweise keine Seitenzahlen. Wie heißt es in einem der Dialog in „Hier“: „Das Leben hat so eine Weise, die Dinge aufeinander zu reimen.“ McGuire lässt sich fast wie in Trance durch die Zeiten tragen, man glaubt zu träumen. Auf einer Seite trampelt ein Saurier durch ein Telefongespräch über den kranken Vater, auf einer anderen flüstern 1609 Indianer im Wald, während gleichseitig 1997 ein Einbrecher das Fenster öffnet. Manchmal sind es drei, fünf, sieben ineinander verschachtelte Bilder, auf denen alles möglich ist.

Sie zeigen vor allem eins: über die lange Zeitstrecke betrachtet ist vieles, was sich im Moment seiner Gegenwart absolut wichtig nimmt, auch nur eine x-te Wiederholung. Zu allen Zeiten wird getanzt, gelacht, geliebt, gestritten und geschimpft. Jemand zieht ein, renoviert, bekommt Kinder, wird alt. Immer wieder Neuanfänge und Hoffnungen, die in Alltagsroutinen münden, die McGuires spitze Stifte mit subtilem Witz vorführen. „So ist es immer“, heißt es an einer Stelle im Buch, „genau so.“

Zusammenhänge ergeben sich oft erst im Blick des Betrachters
Das dicht geknüpfte Netz solcher Momentaufnahmen, zu denen der Beschauer das Vorher und Nachher oft selbst finden muss, erzählt keine stringenten Geschichten. Es lädt vielmehr ein zu einem Fantasie fordernden Blättern in den Details, in überraschende und weitgespannnte Assoziationsräume. In denen vieles nur über die Gedanken, die Erlebnisse, das einzigartige Leben des Betrachters zusammenfindet. Wie beim Zappen im Internet, wo scheinbar Inkompatibles aufeinander trifft, das dann doch enger zusammengehört, als wir wahrhaben wollen. Was übrigens den Vorteil hat, dass man das Buch ein paar Wochen später ohne weiteres wieder zur Hand nehmen und sich in neue, vielleicht ganz andere Ideenräume entführen lassen kann.

Am Ende steht ein leichtes Unbehagen: Wenn alles so ähnlich ist, wenn sich die Menschen sich ewig gleich verhalten, was bliebe so besonders an der Krone der Schöpfung, mal in erdgeschichtliche Dimensionen eingeordnet? Was von ihrer Absolutheit und ihrem Wollen, von den Dramen und Freuden des Lebens, was wären ihre Hoffnungen noch wert? Wie verkraftet man die Kränkung, das alles seine Zeit hat und dass immer etwas anderes nur darauf wartet, das Bisherige abzulösen? Vielleicht, indem man sich ganz gelassen durch McGuires Buch treiben lässt und irgendwann einfach nur fragt: „Hm... Was wollte ich noch gleich hier?“

Richard McGuire: Hier.
Dumont Verlag, 300 Seiten.


Abbildungsnachweis: (c) alle Dumont Verlag / McGuire

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