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Der Tod bin Ladens als Goldberg-Variation: „Geronimo“ von Leon de Winter

Um den Tod Osama bin Ladens, dem einst meistgesuchten Terroristen, ranken sich zahlreiche Legenden. Journalisten, Verschwörungstheoretiker, Politiker und Drehbuchschreiber ringen um die beste Geschichte, die einleuchtendste Interpretation. Der niederländische Autor Leon de Winter fügt diesen mit seinem teils verwegenen Politthriller eine weitere Version hinzu. Die ist nicht unbedingt wesentlich abwegiger als manch andere, auf jeden Fall aber sehr fein komponiert. Dafür hat er Bachs Goldberg-Variationen als Schablone und Subsujet gewählt.

Im Mittelpunkt von „Geronimo“ – dem militärischen Codewort für die erfolgreiche Tötung bin Ladens – steht der ehemalige CIA-Agent Tom Johnson, Sohn eines jüdisch-russischen Musikerehepaares, dem es selbst zu einer Profilaufbahn als Musiker an Talent und Motivation fehlte, dem aber damit die Liebe zur Musik in die Wiege gelegt wurde. Die gibt er an die junge Muslimin Apana weiter. Nachdem die Eltern des Mädchens 2008 in Afghanistan von Taliban-Kämpfern ermordet wurden, kommt es in die Obhut des amerikanischen Militärs, dort wo Tom stationiert war. Er fühlt sich verantwortlich für das Mädchen, entwickelt eine besondere Nähe zu ihm, auch weil er seine eigene Tochter auf tragische Weise verloren hat.

Tom spielt Apana Bachs Goldberg-Variationen vor – und das Mädchen ist verzaubert, ähnlich wie er vor 25 Jahren selbst. „Ich hatte zum ersten Mal eine Ahnung davon, um was es im Leben geht, Schmerz und Liebe und Sehnsucht und Hoffnung und Verlust“, lässt de Winter seinen Protagonisten erinnern. Nun geht es dem Mädchen wie einst Tom: „Bach hatte sie sehend gemacht.“ Mit solchen Sätzen nähert sich der Niederländer gefährlich dem Kitsch, weiß jedoch sogleich diesem bestialische Gewalt entgegenzusetzen. Bei einem Überfall auf das amerikanische Militärlager entdecken die Taliban das Mädchen versunken in die Musik – und hacken ihr Hände und Ohren ab.

Apana gelangt die Flucht nach Abbottabad, einem recht wohlhabenden Städtchen mit der berühmtesten Militärakademie Pakistans – und dem letzten Aufenthaltsortes Osama bin Ladens. Dort kümmern sich eine Christin und deren 16-jähriger Sohn Jabbar um das obdachlose Mädchen, waschen und füttern es, geben ihm einen Platz zu Schlafen. Noch dazu verlieben sich die beiden Jugendlichen ineinander, eine kleine Romanze entsteht – das nur einer der vielen kleinen Handlungsstränge dieses Romans. Doch eines Tages verschwindet Apana, ein Mann auf einem schäbigen Moped mit „bekloppter Kopfbedeckung“ nimmt sie mit. Es ist Osama bin Laden.

De Winter beschreibt den gefürchteten Terroristen als einen Mann mit erstaunlich menschlichen Zügen, der „kleine blaue Pillen“ schluckt, um abends seine Lieblingsfrau besuchen zu können, der nachts durch Abbottabad tuckert, um für sich und seine Frauen Eiscreme, Schokolade und Kaugummi zu kaufen. Und der sich um das verstümmelte Waisenmädchen kümmert. Naiv fast ein wenig schlicht, dabei ebenso größenwahnsinnig wie banal-bösartig stellt er diesen Menschen dar; beschreibt ihn in einem Ton, der an einen kleinen Jungen und Wirrkopf erinnert und nicht etwa einen skrupellosen Terroristen vermuten lässt.

Überhaupt ist es der Ton, der einen großen Reiz dieses verschachtelten Kolportagethrillers ausmacht. Denn der variiert je nach Kapitel, die de Winter den unterschiedlichen Charakteren zuschreibt: mal sachlich, mal sehr emotional, wenn er den Ich-Erzähler Tom berichten lässt, jugendlich-staunend, wenn er aus der Sicht des Jungen Jabbar schreibt. Das tut er wie bei allen anderen Personen mit Ausnahme von Tom, der teils ganz offensichtlich als Erzähler fungiert, in der dritten Person und doch kommt man diesen Charakteren sehr, sehr nah.

De Winter webt die Geschichte um all diese Menschen, verknüpft sie auf teils abenteuerliche Weise, verbindet Politthriller mit tragischen, menschlichen Dramen und einer intensiven Auseinandersetzung mit der Musik. Er springt zwischen den USA, Afghanistan, Pakistan, Großbritannien, Israel und die Niederlande. Selbst Madrid widmet er die ein oder andere Episode, dort, wo seine Frau und Tochter 2004 die Anschläge erlebten, an deren Folgen das kleine Mädchen Monate später starb. Dem kann der Leser nicht immer folgen, auch den zahlreichen Termini aus der Sprache des amerikanischen Militärs nicht. Und doch gelingt es dem Autor, die Spannung aufrecht zu erhalten. Es sind verschiedene Variationen, Perspektiven einer Geschichte, eines Weltereignisses.

Tom ist ein gebrochener Mann, körperlich wie geistig. Seine alten Kameraden bittet er, Apana nach deren Verschwinden zu suchen, dabei gelangt er selbst in das Netz internationaler Agenten. Denn in de Winters Version der Ereignisse dringen die Männer der US-Spezialeinheit, das Seals Team 6, zwar tatsächlich in der Nacht des 2. Mai 2011 in bin Ladens Haus in Abbottabad ein. Doch sie töten entgegen ihrem offiziellen Auftrag einen Doppelgänger. Bin Laden wollen sie später in Den Haag vor Gericht stellen lassen. Das mag eine etwas krude Version sein, angesichts der zahlreichen Interpretationen und vor dem Hintergrund, dass die Öffentlichkeit wohl nie erfahren wird, was genau in dieser Mai-Nacht geschah, aber eben auch nicht abwegiger als viele andere Geschichten.

Sehr viel kruder oder vielmehr irritierender aber ist de Winters Idee bin Laden mit einem USB-Stick auszustatten, mit dem dieser glaubt, die westliche Welt in der Hand zu haben. Er enthält Bilder, die Barack Obama eindeutig als Muslim identifizieren. Abgesehen davon, dass das durchaus als islamfeindlich zu verstehen ist, spinnt der Autor damit eine Idee, die der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump unlängst in seiner propagandistischen Hetzjagd auf Obama und die Demokraten kolportierte.

Zweifelsfrei ist „Geronimo“ ein klug komponierter Polit-Roman, der einmal mehr die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischt und allein dadurch den Leser mit einem beklemmenden Gefühl zurücklässt. Das können auch die tragischen und oftmals so liebevoll erzählten Einzelschicksale nicht wirklich ausgleichen. Irritierend allerdings ist die Banalisierung des Terroristen bin Laden als Wirrkopf, was nur bedingt als Satire taugt. Noch fragwürdiger bleibt, welche ideologische Intention der als islamkritisch bekannte Autors mit dieser Variation der Geschehnisse rund um bin Ladens Tod verfolgt.

Leon de Winter: „Geronimo"
aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers,
Diogenes Verlag, Zürich 2016,
442 Seiten, ISBN: 978-3-257-06971-6.


Über den Autor:
Leon de Winter, geboren 1954 in 's-Hertogenbosch als Sohn niederländischer Juden, begann als Teenager, nach dem Tod seines Vaters, zu schreiben. Er arbeitet seit 1976 als freier Schriftsteller und Filmemacher in Holland und den USA. Einige seiner Romane wurden für Kino und Fernsehen verfilmt, so „Der Himmel von Hollywood“ unter der Regie von Sönke Wortmann, der Roman „SuperTex“ von Jan Schütte. 2002 erhielt de Winter den Welt-Literaturpreis für sein Gesamtwerk, und 2006 wurde er mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet.

LINK zu Phoenix-Interview mit de Winter


Abbildungsnachweis:
Header: Buchcover und Porträt de Winter: Foto: © Marco Okhuizen/laif