Meinung
Jugendgefährdende, gewaltverherrlichende oder gar pornografische Inhalte sind, anders als bei Hardcore-Varianten des Films, nicht unbedingt Sache des Theaters. Deshalb bietet die Bühne der staatlichen Zensur „von oben“ wenig Angriffsfläche. Dennoch brodelt es gerade in jüngster Zeit heftig.
Waren es jahrzehntelang Tabuverstöße wie gewagte Nacktheiten oder Blut- und Fäkalorgien auf der Bühne, die mehr oder weniger gezielt die Gemüter erregen sollten, sind es seit einiger Zeit vor allem politische Provokationen, die die Rechtsanwälte auf den Plan rufen. Denn: An die Stelle der Staatsautorität sind Interessengruppen getreten, an die des radikalen Verbots der juristische Streit.
Regisseure wissen längst, dass mittlerweile fast nur noch der handfeste Skandal jenes öffentliche Geräusch erzeugt, dass dem Theater überleben hilft. So scheint es, als habe sich Regisseur Volker Lösch seit 2005 auf Erregung politischen Ärgernisses spezialisiert – weil ihn vieles an der politisch-sozialen Wirklichkeit stört, wie er in einem Interview bekannte. In das Arbeiterelend von 1844 in Gerhart Hauptmanns „Die Weber“ ließ er in Dresden die aktuelle soziale Realität einbrechen: In Gestalt eines Arbeitslosenchores, der unter anderem Todesdrohungen gegen die TV-Moderatorin Sabine Christiansen ausstieß.

Wieder war es ein solcher Chor, der 2008 in Löschs Hamburger „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats“ von Peter Weiss eine Liste der reichsten Hamburger verlas. Betroffene drohten mit einstweiligen Verfügungen. Wo Demokratie und Freiheit der Kunst den direkten Knock-out auf „Anstößiges“ und Unerwünschtes nicht erlauben, schlüpft die Zensur gern in ein formales Gewand: Im Fall der „Weber“ stieg der Bühnenverlag Felix Bloch Erben juristisch in den Ring, weil die Hinzufügungen zu Hauptmanns Text nicht genehmigt waren. Als der Verlag beim Musical „Hartz IV“ wieder ähnlich einschritt, reagierte das Dresdner Schauspiel deutlich. Anstelle des verbotenen Musicals spielte es „Mephisto“ von Klaus Mann – und stellte sich in eine Traditionslinie der Zensur.
Manns Roman von 1936 über den Intendanten und Nazi-Mitläufer Hendrik Höfgen, in dem unschwer Gustaf Gründgens zu erkennen war, wurde von den Gustaf-Gründgens-Erben bis 1981 vom westdeutschen Buchhandel ferngehalten. In der DDR allerdings konnte man „Mephisto“ schon seit 1956 beziehen.
In diese Traditionsbildung passt auch, dass Hauptmanns „Weber“ selbst einst der preußischen Zensur zum Opfer fielen, weil man fürchtete, der Funke vom berühmten Weberaufstand des Stückes würde auf die Gesellschaft überspringen.
Das Theater unserer Tage will offenbar nicht länger nur auf dem Podest der hehren Kunst stehen: Es hält hier und da die Lunte an gesellschaftliche Missstände.

Vermutlich haben solchem Provokationstheater einige jüngere Skandale den Rücken gestärkt. Starregisseur Peter Konwitschny musste im Jahr 2000 einer entschärften, um drei drastische Passagen gekürzten Version seiner „Csardasfürstin“ zustimmen, die er in die Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs verlegt hatte. Bis Kunstfreiheit und Urheberrechtsschutz doch Oberwasser bekamen – und das Semperopernpublikum auch wieder seine Originalfassung anschauen durfte.
Was heute noch helle Empörung auslöst, kann morgen schon gepriesen oder gar preisgekrönt werden. Kritiker der „Deutschen Bühne“ lobten „Die Weber“ als herausragendes Theaterereignis der Saison 2004/2005 – wegen seiner sozialpolitischen Stellungnahme. Und Jürgen Goschs Düsseldorfer „Macbeth“, anfangs geschmäht wegen seiner nackten, in Blut und Kot wühlender Männer, heimste bald hymnisches Kritikerlob und höchste Theaterpreise ein.
Viele Beispiele der letzten Jahre belegen es: Auf Provokation, Abwehr oder gar Verbot folgt nicht selten der Gesinnungswandel. Der Prozess der Aufklärung scheint im Theater vehement zu leben – das ist allemal besser als die scheinliberale Gleichgültigkeit unserer Tage.

Ihre Christine Adam
 

 

(Christine Adam ist Journalistin und Theaterkritikerin der Osnabrücker Zeitung. Anmerkung der Red.: Artikel erschienen in der Neue Osnabrücker Zeitung am 14.12.2009)